Noise-Album von Pan Daijing: Das kleine Monster in ihr muss raus

Pan Daijing, Performance-Künstlerin und Musikerin aus China, lebt in Berlin und liebt den Lärm – ihr Album „Lack“ ist ein psychedelisches Hörspiel.

Frau im Nahportrait mit wirbelndem, dunklem Haar

Sah als Kind jeden Tag nach dem Mittagessen True-Crime-Sendungen: Pan Daijing Foto: Ralf Marsault

Unlängst überraschte mich eine 80-jährige Dame: Sie schwärmte, an der Berliner Havel sitzend, von ihrer Wohnlage in der Einflugschneise des alten Tempelhofer Flughafens. In den späten vierziger Jahren befürchtete sie, wenn am Himmel ein paar Minuten Ruhe war, dass die Westalliierten die Stadt aufgegeben hätten. Auch Jahrzehnte nach der Luftbrücke freut sie sich immer noch über diese Art von Lärm.

Was entscheidet eigentlich darüber, welche Klänge wir tröstlich finden? Ist das kulturell determiniert oder werden ganz eigene Erfahrungswelten angezapft? Vermutlich beides.

Ähnlich wie mit der alten Berliner Dame und dem Fluglärm verhält es sich auch mit Noise-Sound und der chinesischen Künstlerin Pan Daijing. Klänge, die manch anderen verstören, so sagt sie, lösen bei ihr gute Gefühle aus. Vielleicht ist das ein Grund dafür, dass sie sich ihnen so intuitiv und frei von Genre-Konventionen nähert – und dafür derzeit viel positive Aufmerksamkeit bekommt.

Beim Interview in einem Kreuzberger Cafe macht die 25-jährige Musikerin und Performance-Künstlerin einen aufgeräumten Eindruck. Seit anderthalb Jahren lebt Daijing in Berlin und ist beschäftigt mit ihren Projekten und Auftritten. Gerade erschien ihr zweites (respektive drittes, wenn man die Debüt-EP „Sex und Disease“ mitzählt) Album „Lack“: eine Art Resümee ihrer bisherigen Performances. Dementsprechend klingt „Lack“ weniger nach Techno oder Industrial-Noise als nach einem surreal-psychedelischen Hörspiel.

Britney Spears und Michael Jackson

An diesem Wochenende wird Pan Daijing beim Festival Berlin Atonal die Performance „Fist“ vorstellen: Unter anderem soll es dabei um Ambivalenzen gehen, die sie mit der titelgebenden Faust assoziiert: „Man kann zuschlagen, Wut ausdrücken. Aber man kann die Hand auch zur Faust ballen, um genau das nicht zu tun.“ Für jede Performance nimmt Daijing sich etwas Neues vor. Sonst langweile sie sich, sagt sie.

Aufgewachsen ist sie in der Dreieinhalb Millionen Einwohner zählenden Stadt Guiyang im Südwesten des Landes. Kulturell bekam sie dort aus der westlichen Welt wenig mit. „Ich gehörte nicht zu den coolen Kids, die illegal importierte CDs hören. Auch wusste ich nicht, wie man das Internet nutzt. Die einzigen Stars, die ich kannte, waren Michael Jackson und Britney Spears.“ Pan Daijing schlug zunächst einen konventionellen Weg ein, zwang sich durch das leistungsorientierte Bildungssystem („Es war wie beim Militär, wofür ich heute fast dankbar bin, weil es mir Disziplin beigebracht hat“) und studierte Rechnungswesen.

Ein Studienjahr in San Francisco verändert alles. „Ich kam mit vielem zum ersten Mal in Berührung. Zugleich war es eine sehr melancholische Zeit. Mein Englisch war schlecht, ich litt unter dem Kulturschock.“

Wo Extremes passiert

In Nordkalifornien entdeckt sie, wie sie es ausdrückt, „das heilende Potenzial“ dissonanter Klänge. „Zum Beispiel lernte ich das Frühwerk der Industrial-Band SPK schätzen. Ich fühlte mich in dieser Musik aufgehoben, ich kann damit leicht Abstand gewinnen.“ Vielleicht ja, so spekuliert sie, weil sie als Kind viel Zeit in der Unfallchirurgie verbracht hat, ihre Mutter war Ärztin. „Dort passieren extreme Dinge, aber ich habe mich wohl gefühlt.“

Pan Daijing: „Lack“ (PAN/Cargo)

Dank neuer Freunde in San Francisco (die einen Plattenladen betreiben) holt Daijing ihre Musiksozialisation im Schnelldurchlauf nach. „Sobald mir klar wurde, wie leicht man heutzutage Musik selbst produzieren kann, kaufte ich einen gebrauchten Drumcomputer für 100 Dollar.“ Unter anderem die Einstürzenden Neubauten begeistern sie – und wecken ihr Interesse an Berlin.

Ihre Art zu arbeiten vergleicht sie mit Filmemachen. „Bevor ich Musik mache, habe ich Bilder vor meinem inneren Auge. So finde ich einen kreativen Zugang. Auf dieser Basis zu improvisieren ist wichtig für mich.“ Auch Anregungen bezieht sie aus dem Medium Film: „Ich gucke zum Beispiel gerne Dokumentationen und mache nonstop Notizen: nichts Inhaltliches, ich schreibe auf, was der Film bei mir auslöst.“

Abgründiges interessiert sie auch hier: „Als Kind schaute ich jeden Tag nach dem Mittagessen eine True-Crime-Sendung. Bis heute vermittelt mir dieses Format ein heimeliges Gefühl. Geheimnisse faszinieren mich. Besonders fesselt mich an diesen Programmen, wie der Horror in unterschiedliche Narrative zerfällt: was der Psychologe sagt und wie es der Polizist sieht.“

Tee trinken und reden

Anregungen für ihr aktuelles Album fand sie übrigens bei Rainer Werner Fassbinders RAF-Film „Die dritte Generation“. Dort wird immer wieder Bezug genommen auf Arthur Schopenhauers Konzept von der „Welt als Wille und Vorstellung“. Kein Wunder, dass dieser Satz, wenn auch eher als Slogan denn als philosophisches Konstrukt, bei Pan Daijing Widerhall findet. Schließlich scheint ihr Vertrauen in ihre Intuition ungebrochen. Man könnte auch sagen: unverdorben von popkulturellen und kunstbetrieblichen Diskursen. Die ewigen Diskussionen darum, inwiefern ein authentischer Ausdruck im Pop überhaupt möglich ist, bremsen sie nicht aus.

Derzeit arbeite sie übrigens an einem Pop-Album. Den Vibe beschreibt sie als: „Lass uns Tee trinken und über Probleme reden.“ Und zieht von da aus eine weitere Parallele zwischen ihrem Ansatz und dem Filmemachen: dass die Handschaft eines Regisseurs im Idealfall die gleiche bleibt – ob er nun eine Komödie oder einen Thriller dreht.

Selbstbewusst beschreibt sie ihre Position: „Auf meinem kreativen Weg stehe ich erst am Anfang. Doch was meine Biografie mir an Nachteilen mitgegeben hat, kann ich mittlerweile zu meinen Gunsten drehen. Von jeher hatte ich das Gefühl, dass dieses kleine Monster in mir lebt, was raus muss. Jetzt habe ich einen Weg gefunden und bin dafür wirklich dankbar. Wäre ich eine Frohnatur, würde ich heute wohl in einer Bank arbeiten.“

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