Niedersachsen ist Pferdeland: Wo der Gaul eine Lobby hat

Die Heide ist ein idealer Ort zum Reiten. Für Ranchurlaube, Planwagenfahrten, Gourmet-Ritte oder um nur die Natur zu genießen.

Blick von einem Pferdewagen auf eine Heidestraße

Mit dem Pferdewagen durch die Lünebuger Heide Foto: imago/Martin Werner

Der Wanderritt auf einem Pferd fühlt sich sehr eigen an. Ein unregelmäßiger Takt, während die Hufe mal tief einsinken, mal klackern auf Asphalt. Ticktack, ticktack. Als Anfänger in der Lüneburger Heide auszureiten, ist ein bisschen, als müsse man ein Kind auf Japanisch erziehen. In einer fremden Sprache, in der ich keine Autorität habe; reich an Missverständnissen, tastend nach Vertrauen. Mein Pferd, der schwarze Saphir, schwitzt in der Wärme. Die Tropfen rinnen durch sein Fell. Sein Rücken schaukelt, als wir uns auf dem Sandweg bewegen, vorbei an sanft lila blühender Heide, an Wacholdersträuchern und vereinzelten Kiefern, weiter durch eine Furt.

Die Wanderreitführerin Katrin Maer­ten reitet vor. Sie leitet mich durch die Lüneburger Heide auf einem Wanderritt, der offiziell keiner ist. Die Wanderritte, die Maerten üblicherweise anbietet, dauern meist drei bis vier Tage und gehen von Station zu Station. Dafür aber braucht es Übung. Katrin Maer­ten, mit B-Trainer-Lizenz der Deutschen Reiterlichen Vereinigung, sitzt im Sattel, seit sie sechs Jahre alt war. Sie spricht über Pferde, als seien es ihre Kinder, und über den Weg, als sei er auch für sie jedes Mal wieder eine Entdeckung.

Die verschiedenen Grüntöne. Die Arten der Heide, lila blühende und weiße. Einmal erzählt sie, sie wolle Wanderritte durch die Lüneburger Heide, ihrem überwiegenden Trainingsgelände, nicht allzu oft anbieten. „Ich will nicht an den Punkt kommen, zu sagen: Hier auf der rechten Seite sehen Sie gleich folgenden Baum.“ Und die Wahrheit ist auch: Berufliche Wanderreitführerin lohnt sich nicht.

Pferdetourismus hat viel mit Hingabe zu tun, wenig mit Gewinnmargen. Niedersachsen ist das Kernland der Verflechtung von Pferdeliebe und Pferdegeschäft. Und ein Gesetz hilft. Denn das Niedersächsische Gesetz über den Wald und die Landschaftsordnung gestattet Reiten auch auf Fahrwegen, solange ganzjährig gewöhnliche Autos darauf dürfen. Das gibt Reitern Freiheit.

Laut der Deutschen Reiterlichen Vereinigung sind in Niedersachsen 50.000 bis 70.000 Arbeitsplätze vom Pferd abhängig. Die 2016 herausgegebene Lobby-Broschüre „Wirtschaftsfaktor Pferd“ behauptet einen jährlichen Gesamtumsatz von 900 Millionen Euro rund um Pferdesport. Katrin Maerten formuliert es so: „Wir sind in der Heide eine so genannte strukturschwache Region. Pferde haben bei uns eine größere Lobby als anderswo.“

Ein traditionelles Pferdeland

Küste und Strand, Watt und Meer, Wald und Heide: Niedersachsen ist ein farbiger Flickenteppich der Vielfalt. Und alternde Königin des Reittourismus. „Es ist ein traditionelles Pferdeland mit vielen Züchtern, die aus alten Reiterfamilien kommen“, sagt Ulrike Franke von BTE Tourismus.

Franke hat die letzte große Studie zu Pferdetourismus in Deutschland mit verantwortet. Sie legt nahe: Das Pferd als Wirtschaftsfaktor ist ein Überlebenskünstler. Nicht immer freiwillig und sinnig. Das Duhner Wattrennen, auch das findet in Niedersachsen statt, steht seit Jahren wegen Tierquälerei unter massiver Kritik.

Ulrike Franke, Tourismusexpertin

„Der Trend geht weg von der Leistungs- und hin zur Naturorientierung. Viele Reiter bevorzugten entspannte Ausritte in der Landschaft“

Wir ziehen weiter durch die Heide. Reiten ist archaisch. Ein bewusstes Erleben statt schnellen Konsums, ein Gefühl, bei dem man Wind, Sandboden und Pferdemähne spürt. Den allmählichen Übergang beobachtet, wenn in der Lüneburger Heide der Kiefernwald zu Mischwald wird und der Mischwald zu Laubwald. Reiten erfordert mehr als Schwimmen oder Fahrrad fahren: Man muss sich einlassen, Empathie entwickeln. Loslassen. Die Natur hat sich um uns gelegt wie eine Decke.

Schon vor einigen Jahren stellte das HorseFuturePanel eine „Verschiebung weg vom klassischen Turniersport hin zu alternativen Reitweisen“ fest. Reitsportvereine kämpfen mit rückläufigen Mitgliederzahlen, alternative Konzepte dagegen wachsen.

„Der Pferdesport befindet sich im Umbruch“, bestätigt Ulrike Franke. „Der Trend geht weg von der Leistungs- und hin zur Naturorientierung. Viele Reiter bevorzugten entspannte Ausritte in der Landschaft.“ Und: „Viele wünschen sich ein sicheres, organisiertes Abenteuer.“ Sie erzählt von Ranchurlauben mit Lagerfeuerromantik, Planwagenfahrten mit Posträuberüberfall oder Gourmet-Ritten. Es geht aber auch viel einfacher.

Ein Nachmittag auf dem Reiterhof Cohrs am Rande des Naturschutzgebiets. Drei Teenagerinnen haben sich um ihre Pferde gruppiert. Sie striegeln und tätscheln und finden alles supersüß, machen Handyfotos. Die drei Mädchen, Reitschülerinnen, sind so etwas wie die Kernzielgruppe der Pferdetourismusindustrie. Wer über Reiten redet, muss auch über das Mädchending reden. Für Männer ist es schwer geworden, das Pferd gut zu finden. Reiten war mal Wildwest, heute ist es rosa Glitzer und die Wendy. Laut Studie sind 88 Prozent der Pferdeurlauber weiblich. Jahrelange Werbung für eine Zielgruppe hat eine sehr begrenzte Klientel geschaffen. Heute bemüht man sich, Reiterhofangebote für Jungs zu machen. Oft heißen sie Fußball.

Ein Familienhof wie aus dem Bilderbuch

Henrike Meyer geht die Ställe ab. Der Reiterhof Cohrs ist ein Familienhof mit Bilderbuchcharakter, mit Pferden und Ponys, Kleintieren, großzügigen Weiden und Heuboden. „Die Familien kommen vor allem, weil sie einen Reiterhofurlaub machen wollen“, sagt sie, „nicht so sehr wegen der Lüneburger Heide. Bei Urlaubern mit eigenem Pferd ist es anders: Sie kommen vor allem wegen der Landschaft.“

Urlaub auf dem Reiterhof

Pferdeurlaub ist in der Lüneburger Heide auf vielen Höfen möglich, zum Beispiel auf dem Ferienhof Cohrs unter www.hof-cohrs.de. Wer einen Überblick über die vielen Angebote sucht, kann unter www.bettundbox.de Bauernhöfe, Wanderreitstationen und Über­nach­tungs­mög­lich­keiten mit Pferd finden.

Wanderreiten

Ein Wanderritt lässt sich in indivi­duel­ler Gruppe oder in Begleitung einer WanderreitführerIn machen; auf jeden Fall aus Sicherheits­gründen mindestens zu zweit. Kontakt zur Wanderreitführerin Katrin Maerten gibt es unter www.wanderreiter.info. Eine Übersicht für Angebote deutschlandweit und im Ausland findet sich unter www.reiten-weltweit.de

Die Geschichte wurde ermöglicht durch die Unterstützung vom Reiterhof Cohrs und von Katrin Maerten.

Meyer ist eine, die mit Pferdeliebe in der Region groß wurde: Aufgewachsen direkt um die Ecke im Ort Bispingen, ging sie zum Studium nach Stuttgart und Kiel – und kam wieder. „Ich bin ein Landei“, sagt sie. Auf den Reiterhof Cohrs ging sie eigentlich nur für einen Sommerjob und wurde rechte Hand der Inhaberin Marianne Cohrs. Es ist harte Arbeit, in der Hochsaison oft elf oder zwölf Stunden am Tag. Das Geld kommt vor allem durch die Fe­rien­wohnungen; Reitunterricht allein macht kaum jemanden reich. Und Pferde sind teuer.

Der Pferdeurlauber ist Überzeugungstäter. Im Schnitt seit 25 Jahren aktiver Reiter, 21 Stunden pro Woche im Reitstall. Und in Heimatnähe unterwegs. Vormittags Reitunterricht und nachmittags Ausritte, Stockbrot und Ponyspiele, viele Familien, die jedes Jahr wiederkommen. Viele Städter kommen aus der Umgebung: In diesem Fall aus Bremen, Berlin, Hamburg und Hannover. Wer vom Land kommt, bringt das Reittier oft mit. Meyer sagt: „Hier hat ja jeder Zweite sein eigenes Pferd.“

Stammkundschaft und Mundpropaganda, danach funktionieren bis heute viele Höfe. Ist das zukunftsfähig? Frankes Studie fordert mehr Schnupperangebote für Einsteiger; auch Vernetzung ist schon länger ein deutschlandweites Thema. Und neuerdings die Reiseziele. „Was die Reiseziele für Pferdetourismus in Deutschland betrifft, ergeben sich deutliche Hinweise auf Verschiebungen“, sagt Ulrike Franke. Weg aus Niedersachsen, hin nach Schleswig-Holstein oder Mecklenburg-Vorpommern.

Noch liegt Niedersachsen vorn

„Vielleicht hat sich Niedersachsen zu lange ausgeruht.“ Der Aufstand aus Nordost gegen die alte Königin, das ist bislang eher ein Flackern am Horizont. 49 Prozent der Befragten von 2017 gaben an, den letzten Pferdeurlaub in Niedersachsen gemacht zu haben. Das zweitplatzierte NRW kam auf 28 Prozent.

Wenn es wirklich etwas gibt, was den Pferdesport und Pferdetourismus deutschlandweit beunruhigt, dann eher: Lange Schulzeiten. Breitensportvereine aller Couleur klagen über die Ganztagsschule; bei einem zeitintensiven Hobby wie Reiten ist sie besonders spürbar. Der Pferdeurlauber altert; der Zugang zu Pferden wird für Kinder schwieriger. Schulen und Kindergärten sollen vermehrt mit Reitsportvereinen kooperieren. Rund 1.800 Kooperationen gibt es aktuell. Das Pferd zum Kind, statt das Kind zum Pferd. Wieder ein Weg in die Moderne.

Wanderritt, letzte Etappe vor dem Umkehren. Wir machen Halt im kleinen, autofreien Örtchen Wilsede mitten im Naturschutzgebiet Lüneburger Heide. Die Restaurants haben selbstverständlich Stellplatzmöglichkeiten für Pferde; daneben ist ein Parkplatz für Kutschen. Der Kutscher, unbeschäftigt, schaut träge vor sich hin. Nach dem Essen kommen wir zurück zum Stellplatz und erschrecken. Katrin Maer­tens Pferd ist weg. Der Kutscher sitzt noch da. „Ihr Pferd ist eben weggelaufen“, sagt er ungerührt. Ob er gesehen hat, wohin? „Nee.“ Ist es denn schon lange weg? „Ach nee, ich glaube nicht.“

Nach einigem Suchen und einem Rückruf vom Hof Cohrs stellt sich heraus: Das Pferd ist nach Hause gelaufen. Nicht in sein angestammtes Zuhause, sondern zum Hof Cohrs, wo es übergangsweise mit seinen Herdenmitgliedern steht. „Ist das nicht faszinierend?“, fragt Katrin Maerten. Sie macht sich auf den Rückweg, zu Fuß.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.