Neues Album von Kreidler: Akustischer Sichtbeton

Die Düsseldorfer Band Kreidler vertont mit ihrem neuen Album „European Songs“ Werke des Künstlers und Filmemachers Heinz Emigholz.

Vier Männer nebeneinander, drei davon blicken in die Kamera

Umtriebige rheinische Brutalisten: Kreidler Foto: Chris Ralli & Melina Pafundi

„Alle Gewalttätigkeiten vergangener Jahrhunderte erscheinen wie neu erdacht. Versprochen ist versprochen: Hinter den Schwarzen Löchern des Universums lauern eschatologische Paradiese.“ Wie ein Orakelspruch stehen die Sätze des Künstlers und Filmemachers Heinz Emigholz vor den ersten Tönen von „European Song“.

Das Zitat des Künstlers, der einen beachtlichen Teil des Œuvres der Düsseldorfer Band Kreidler verfilmte, stammt aus einer Serie von Notizheften, die Emigholz während der Siebziger in New York mit Skizzen und Kommentaren füllte. „Zeichnung No. 391 – Die Chinesische Landschaft“, der dieser Aphorismus zur Seite gestellt ist, zeigt eine groteske Szenerie, die Emigholz folgendermaßen kommentiert: „Aus den Öffnungen und Ritzen einer perfekten Küche wachsen bananenförmige Dildos – oder sind es Mondsicheln? Eine Frau putzt, kocht und spült sie ab, ein Kind hält ein Exemplar davon ratlos vor sich in der linken Hand und schaut ins Nichts. Eine Haushaltsrolle wartet auf ihren Einsatz. Auf den Holzdielen foltern Ureinwohner ihresgleichen mit Analdehnungen.“

Es ist eine augenscheinlich absurde und doch enorm angespannte Position, in die das Bild seine Betrachter drängt. Eine erzwungene Verschränkung von Vertrautem und Fremdem: Einerseits steht die „perfekte“ Küche in ihrer Modellhaftigkeit stellvertretend für jede und folglich auch meine Küche, während die Absurdität dieser geradezu unmöglichen Situation befremdlich wirkt.

Angst vor dem Fremden

Die Spannung lässt sich partout nicht auflösen, denn das Format der Zeichnung kettet beide Konstellationen unablösbar aneinander und unterdrückt obendrein den instinktiven Drang nach Abstandnahme. Beklemmung, eine ans Pathologische grenzende Angst vor dem Fremden im Eigenen – das ist das Gefühl, das Emigholz mit schlichter Comic-Ästhetik zu vermitteln versuchte. Ein Gefühl, das Kreidler nun in Musik übersetzen.

Die eschatologischen Paradiese, vom jüngeren Verlauf der Geschichte ihres paradiesischen Gehalts beraubt, ähneln zunehmend trostlosen Endzeitszenarien. Kreidler arbeiten sich an dem Soundtrack für ein Europa ab, das allenthalben von wiedererstarkenden Rassismen und Nationalismen geplagt wird. Nichts daran ist schön, weil die Frage nach dem Schönen, dem Wohlgefälligen weil zwecklosen, wie es noch Kant verstand, bis auf Weiteres vertagt ist.

Dem Quartett geht es auf klanglicher Ebene mehr um Ethik als um Ästhetik. Darum, dieser befremdlichen Kälte, die einen aus den medialen Bilderwelten heraus anspringt und bis in die eigenen vier Wände verfolgt, ein akustisches Pendant zu bauen, sie in verdichteter Form hörbar und derart zum Gegenstand der Reflexion werden zu lassen. Das Album wird so zum Versuch einer Gegenwartsbestimmung, die notgedrungen düster, starr und klanglich kühl ausfallen muss.

Architektonische Qualität

Kreidler: „European Song“ (Bureau B/Indigo).

Live: 17.5. Leipzig „Conne Island“, 18.5. Berlin „Berghain Kantine“, 1.6. Köln „Kulturkirche“, 2.6. Schorndorf „Manufaktur“, 3.6. Offenbach „Hafen 2“, 6.6. Bielefeld „Kunsthalle“.

Ethik statt Ästhetik, das war zuletzt auch Leitspruch der architektonischen Brutalisten, die im England der fünfziger Jahre damit begannen, Wohn- und Geschäftshäuser aus nacktem Stahl und Beton zu fertigen. Die Referenz passt, nicht nur, weil einen Teil des Plattencovers von Kreidler eine Sichtbetonfassade ziert, sondern auch, weil ihrem Klangkosmos eine architektonische Qualität innewohnt, die seit dem 2009 erschienenen Album „Mosaik 2014“ immer deutlicher zutage tritt.

Der Architekturtheoretiker Reyner Banham bezog sich nicht auf die Musik, als er schrieb: „To construct moving relationships out of brute materials.“ Aber eben darum geht es: Eine Klang­architektur zu schaffen, die das Rohmaterial – allen voran Thomas Kleins unerbittlich maschinelles Schlagzeugspiel – mobilisiert und dabei den Zeitgeist aufnimmt. „European Song“ ist akustischer Sichtbeton. Und dabei doch nicht ungelenk oder inhuman.

Es steckt Bewegung in diesem störrisch hämmernden Ungetüm, ein Verlangen nach Ausbruch: Dieses augenblickliche und unkontrollierte Aufflackern der Gitarre in „Coulées“ und der gedämpfte und nach Luft ringende Aufschrei des Stimmfragments in der Variation des ewigen Nietzsche-Themas „No God“. Und wo Bewegung ist, da ist immer auch Aufbruch.

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