Neuer Masterstudiengang „Spielanalyse“: Im Maschinenraum des Profifußballs

Etliche Profiklubs schicken ihre Taktikexperten an die Sporthochschule Köln. Dort sollen sie lernen, den Daten die richtigen Fragen zu stellen.

Jürgen Klinsmann und Philipp Lahm auf dem Trainingsplatz, im Hintergrund ein Mann am Laptop

Der Laptop als Trainingsgast? War bei Jürgen Klinsmann selbstverständlich auch schon mit dabei Foto: dpa

KÖLN taz | Das Rätselhafte ist ein fester Bestandteil des Fußballs, und wahrscheinlich sind die unergründlichen Tiefen dieses Sports sogar ein wichtiger Aspekt seiner Faszination. Das Spiel wird statistisch durchleuchtet, bis ins kleinste Detail von Kameras erfasst, von Experten im Fernsehen und an Stammtischen seziert, und am Ende gibt es fünfzehn unterschiedliche Meinungen zu der Frage, warum Mannschaft X gegen Mannschaft Y verloren hat.

Aber wo Rätsel sind, da gibt es auch Entdecker, Forscher und Jäger, die neuerdings ein Labor haben, um der Wahrheit ein Stück näher zu kommen. Gerade hat in Köln eine erste Kohorte solcher Spezialisten den „weiterbildenden Masterstudiengang M.A. Spielanalyse“ begonnen. Junge Männer, die hoffen, der Welt ein paar verlässliche Erkenntnisse über ihren liebsten Sport zu verschaffen.

Es ist ein nebliger Oktobermorgen im Kölner Westen. Professor Daniel Memmert steht wie verabredet an der Pforte der Sporthochschule. Memmert ist Leiter des Instituts für Kognitions- und Sportspielforschung und Initiator des neuen Studiengangs. Er trägt eine schwarze Mütze, tippt auf seinem Telefon herum. Gleich nach der Begrüßung sagt er, dass künftig keine Journalisten mehr so nah an den neuen Studiengang herangelassen werden. Man wolle nicht allzu viel Aufmerksamkeit. Die letzten Geheimnisse des Fußballs sollen im Verborgenen entschlüsselt werden.

Denn genau darum geht es am Ende der Forschungsbestrebungen, von denen der zweijährige Masterstudiengang nur ein Teil ist: um die Erfolgsformel. „Ich bin ganz fest davon überzeugt, dass es so etwas gibt“, wird Memmert später sagen, aber jetzt läuft er erst einmal in ein Nebengebäude der Sportuniversität, wo sich seine 21 Schützlinge in einem abgedunkelten Raum zu einer Übungseinheit mit der klassischen Statistiksoftware SPSS versammeln. Nach und nach tröpfeln die Teilnehmer durch die Tür, Hände werden nicht geschüttelt, sondern lässig ineinandergeklatscht. Frauen gibt es nicht.

Alles wird kategorisiert und in Zahlen gefasst

Ein Beamer summt, graue Lamellenvorhänge halten das Tageslicht fern. Die Studierenden sollen anhand von Datensätzen, die in den Tagen zuvor bei Analyseübungen von Basketball- und Fußballspielen erhoben wurden, bestimmte Thesen belegen oder widerlegen. Zum Beispiel: „Die Anzahl der Pässe, die ein Spieler spielt, ist abhängig von seiner Position.“

Es geht um „kategorische“, „metrische“ und „nominelle“ Variablen. Später steht ein Seminar zum „wissenschaftlichen Schreiben“ auf dem Stundenplan, und tags darauf gibt es zum Abschluss dieser ersten von zwei Präsenzwochen, die pro Semester absolviert werden, noch ein Bonbon: Urs Siegenthaler, der Chefscout von Bundestrainer Joachim Löw, wird einen Vortrag über „Veränderungen im Sport“ halten. Einen Großteil des Studiengangs bestreiten die Analysten aber als Selbststudium, und am Ende schreiben sie eine Abschlussarbeit. Das ist eine Menge Aufwand für Studenten, von denen die meisten längst Experten sind, die zum Teil sogar schon feste Arbeitsstellen bei einem der großen Profiklubs haben.

Der Magisterstudiengang: Der M.A. Spielanalyse an der Sporthochschule Köln ist auf maximal 20 Teilnehmer und Teilnehmerinnen begrenzt. Er beginnt jeweils mit dem Wintersemester und wird erstmals im Wintersemester 2015/16 angeboten.

Voraussetzungen: Abgeschlossenes Studium an einer wissenschaftlichen Hochschule. Mindestens einjährige Berufserfahrung im Bereich Spielanalyse.

Kosten: Die Semestergebühr des Weiterbildungsstudiengangs beträgt 1.850 Euro. Dazu kommt der grundsätzlich für Studenten zu zahlende Semestersozialbeitrag von derzeit 243,40 Euro.

So wie Tonda Eckert, der erzählt, dass er beim 1. FC Köln als Trainer bei der U17 arbeitet. „Der Bereich der Spielanalyse fällt automatisch in den Aufgabenbereich eines Trainers mit rein“, sagt Eckert. Für Tim Mattern, der das Nachwuchsleistungszentrum von Bayer Leverkusen leitet, geht es vor allem um Hilfsmittel für „das Scouting und die Talentanalyse“. Leverkusen hat gleich drei Mitarbeiter zu dem Studiengang angemeldet, der 1.850 Euro pro Semester kostet. Auch RB Leipzig, der FC Schalke, der VfB Stuttgart, der FC Luzern und Rot-Weiß Oberhausen lassen Mitarbeiter zum Master weiterbilden.

Die Gruppe ist homogen. Junge Männer um die 30, die Sport studiert und Trainerscheine gemacht haben. Man sieht diese Fußballnerds mit ihren schwarz umrandeten Brillen seit einigen Jahren überall auf den Pressetribünen der Stadien, wo ihr Blick zwischen Spielfeld und speziellen Analysetools auf ihren Laptopdisplays hin und her pendelt. Kurz vor dem Halbzeitpfiff springen sie dann auf, um in die Kabinen zu eilen, wo sie dem Trainerteam ihre Beobachtungen überbringen. Manche haben auch schon zwei, drei Szenen ausgewählt, anhand deren sich Fehler aus der ersten Hälfte oder Lösungsansätze für die zweite Hälfte illustrieren lassen.

Hoch gefilterte Informationen fürs Trainerteam

Die Arbeit mit Fußballdaten und Videoschnipseln ist längst zur Selbstverständlichkeit im Profifußball geworden. Die Produktion und Interpretation des Zahlenwustes gehört zum Alltag. Klubs mit einer gepflegten Datenbank haben Vorteile, wenn sie Verstärkungen suchen, und Cheftrainer haben meist nicht genug Zeit, um sowohl die eigenen Spiele als auch die Partien der kommenden Gegner zu studieren. Professor Memmert hat beobachtet, dass „die Trainer total dankbar sind, dass sie hoch gefilterte Informationen bekommen“.

Umstritten ist allerdings, welche Informationen wirklich aussagekräftig sind. „Wir befinden uns an einem Punkt, der die Spielanalyse revolutionieren wird“, sagt Stephan Nopp, wissenschaftlicher Referent des DFB-Sportdirektors Hansi Flick, der davor lange Zeit an der Sporthochschule tätig war. Nopp gehört Joachim Löws Analystenteam bei der Nationalmannschaft an, hat bei der Entwicklung des Studiengangs mitgewirkt und ist einer der klügsten Köpfe der Analystenszene.

Nach der Weltmeisterschaft in Brasilien reifte die Erkenntnis, dass all die Daten, mit denen seit Jahren hantiert wird – die Zahl der gewonnenen Zweikämpfe, zurückgelegte Laufdistanzen, Ballbesitzquoten und all die anderen Werte – allenfalls lose mit der wichtigsten Frage des Fußballs in Zusammenhang stehen: Wer gewinnt das Spiel? „Die Daten liefern keine verlässlichen Hinweise“, sagt Nopp. Aber es gibt einen Schatz, den die Analysten in den kommenden Monaten und Jahren heben wollen: die sogenannten Positionsdaten.

Die Gruppe ist homogen. Junge Männer um die 30, die Sport studiert und Trainerscheine gemacht haben. Hände werden nicht geschüttelt, sondern lässig ineinandergeklatscht. Man sieht diese Fußballnerds mit ihren schwarz umrandeten Brillen seit einigen Jahren in den Stadien, wo ihr Blick zwischen Spielfeld und speziellen Analysetools auf ihren Laptopdisplays pendelt. Frauen studieren hier nicht.

In diesem Datensatz steckt die Information, welcher Spieler sich zu welchem Zeitpunkt des Spiels an welcher Stelle des Spielfelds befand und wo der Ball war. „Ich glaube, dass es in Zukunft nur noch dieses eine Datenset geben wird“, sagt Nopp; hier vermutet auch Memmert die eingangs erwähnte Erfolgsformel. Große Softwareunternehmen wie SAP entwickeln unter anderem im Auftrag des Deutschen Fußball-Bundes Programme, die diese Positionsdaten auswerten. Zugleich arbeitet auch Memmert mit seinem Kollegen Jürgen Perl von der Universität Mainz seit vielen Jahren an Tools, die in Sekundenschnelle taktische Muster aus Positionsdaten herauslesen können.

In Zukunft wird die Kunst darin bestehen, die richtigen Fragen zu formulieren und in entsprechende Algorithmen zu übersetzen, glauben die Kölner Forscher. „Den Menschen braucht man an zwei Stellen“, erklärt Memmert, „einmal, um genau die Parameter zu extrahieren, die wichtig sind für diesen Verein, für diesen Trainer, für dieses Trainerteam. Und später brauchen wir die Expertise, um die gewonnen Daten zu interpretieren.“

Hier, an den Hebeln im Maschinenraum des modernen Fußballs, werden viele der mit dem „Master Spielanalyse“ dekorierten Experten einmal wirken in einer digitalen Fußballwelt aus Einsen und Nullen. Schon heute sehen die Analysten oft vier Fußballspiele pro Tag, sie werten die Trainingsdaten aus und wissen oft viel mehr vom Gegner und den eigenen Spielern als ihr Chef. Diese Expertise ist eine der viel zitierten Kleinigkeiten, die den Unterschied zwischen Erfolg und Misserfolg ausmachen können.

Künftig „werden Trainer nicht nur ihre Assistenten mitnehmen, wenn sie zu einem neuen Klub weiterziehen, sondern auch ihre Analysten“, sagt Professor Memmert, so wie es Thomas Tuchel gemacht hat, der seinen Video- und Datenexperten Benni Weber mit zu Borussia Dortmund brachte. Weber hat dort einen Job, von dem sie hier träumen im grauen Informatikraum der Sporthochschule. Ganz nah dran an der Zauberwelt des Profifußballs, aber trotzdem im Verborgenen.

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