Neue-Musik-Klangensemble Zeitkratzer: Von Volksmusik bis Death Metal

Das Klangensemble Zeitkratzer interpretiert Musik aller Genres neu. Sein aktuelles Projekt: die patriotische Kriegsmusik von vor 100 Jahren.

Musikerinnen und Musiker spielen auf klassischen Instrumenten

Das Klangensemble Zeitkratzer spielt einfach alles. Foto: Vanessa Gageos / promo

BERLIN taz | Der größte Coup des Berliner Neue-Musik-Ensembles Zeitkratzer ist immer noch die Interpretation von Lou Reeds außergewöhnlichem Album „Metal Machine Music“. Der Grantler aus New York und ehemalige Kopf von Velvet Underground veröffentlichte dieses bizarre Werk Mitte der Siebziger und verstörte damit seine Plattenfirma ebenso wie seine Fans. Statt weiterer Hits der Marke „Walk On The Wild Side“ war hier endloses Gitarrenfeedback zu hören. Seit John Lennon sich nach dem Ende der Beatles und mit der Hilfe von Yoko Ono an Avantgarde versucht hatte, war kein Rockstar auf ein derart breites Unverständnis in der Popwelt gestoßen. Selbst härteste Lou-Reed-Fan machen bis heute einen weiten Bogen um dieses Album.

Reinhold Friedl und sein Ensemble Zeitkratzer erkannten in „Metal Machine Music“ 25 Jahre nach der Entstehung jedoch mehr als unhörbaren Krach. Sie entdeckten in Reeds Gitarrengrummeln Strukturen und transkribierten den Feedbacklärm in Partituren für Streicher, Kontrabass, Bläser, Akkordeon, Piano und Perkussionsinstrumente. Aus einer verkannten Randnotiz der Popmusik machte der damalige Zeitkratzer-Arrangeur Ulrich Krieger ein hochverdichtetes Werk eines zu Allem bereiten Neue-Musik-Ensembles. Der Alte aus New York war davon so begeistert, dass er ausrichten ließ, er sei unendlich dankbar darüber, dass endlich jemand die Qualität seines so lange verkannten Albums ausreichend gewürdigt habe.

Die Adaption von „Metal Machine Music“ ist paradigmatisch für das, was Zeitkratzer seit ihrer Gründung 1999 machen. Sie nehmen sich Musik jeder Couleur vor und machen noch aus dem augenscheinlich abseitigsten musikalischen Material Zeitkratzer-Musik. Auf zahlreichen Alben, bei zig Auftritten haben sie Klassiker der Neuen Musik von John Cage bis Karlheinz Stockhausen genauso neu interpretiert wie den Death Metal der amerikanischen Band Deicide. Selbst Schweizer Volksmusik ist nicht sicher vor den Berlinern. Dies ist längst das Markenzeichen des personell immer wieder wechselnden Ensembles unter der stetigen Leitung Reinhold Friedls. Für Zeitkratzer ist nichts zu abschreckend, um es nicht neu zu interpretieren.

Gerne arbeitet das Ensemble eng mit den Musikern zusammen, deren Kompositionen man neu arrangiert – dies kann etwa auch jemand sein wie William Bennett von der britischen Industrialband Whitehouse. Die Auswahl der Adaptionen hat dem Ensemble bereits den Vorwurf eingebracht, sich nicht nur wegen der Musik für die Kompositionen bestimmter Künstler zu interessieren, sondern sich vor allem mit großen Namen schmücken zu wollen.

Eine Provokation für die elitäre Neue-Musik-Szene

Dieser Vorwurf ist allerdings wohlfeil. Zeitkratzer zusammen mit William Bennett – das klingt nach Abenteuer, nach Reibung, nach dialektischem Zusammenspiel. Dies nur nicht zu versuchen, weil es wie eine Anbiederung an eine Kultfigur der Industrialszene wirken könnte, wäre schlicht verschenkt.

Wer sich so viel traut wie Zeitkratzer, wer permanent auf der Suche nach Überraschungseffekten ist, um zu verhindern, sich zu wiederholen, eckt eben auch an. Für das Selbstverständnis der elitären Neue-Musik-Szene sind Zeitkratzer natürlich ebenfalls eine einzige Provokation. Das Ensemble bewegt sich bewusst raus aus dem Elfenbeinturm dieser akademischen Szene und reißt die dort immer noch aufrechterhaltene Grenze zwischen U- und E-Musik mit der Dampframme ein. Mit ihren Anknüpfungen an Noise, Pop, Impro, Klassik und allerlei mehr bewegen sich Zeitkratzer in einer Art Niemandsland. Man bezeichnet sie zwar der Einfachkeit halber als Neue-Musik-Ensemble, aber eigentlich sind sie musikalisch eher heimatlos.

Man bezeichnet Zeitkratzer der Einfachkeit halber als Neue-Musik-Ensemble, aber eigentlich sind sie musikalisch heimatlos.

In Berlin wird Zeitkratzer nun im Rahmen der Veranstaltungsreihe „100 Jahre Gegenwart“ zu hören sein, einem auf vier Jahre angelegten Langzeitprojekt, das in ästhetischer und diskursiver Form zurückblickt, um besser verstehen zu können, wie die damalige Gegenwart auf die heutige reflektiert. Zeitkratzer hat sich zu diesem Zweck angeschaut, welche Musik in den deutschen Konzertsälen seinerzeit aufgeführt wurde, mitten im Ersten Weltkrieg. Angekündigt hat das Ensemble nun Neuinterpretationen dieser kriegskompatiblen und patriotischen Musik, die damals en vogue war. Etwa Richard Wagners „Kaisermarsch“, aber auch „Komm, süßer Tod“ von Johann Sebastian Bach, ein Stück voller immanenter Todessehnsucht. „Zeitkratzer wird begeistert Kriegsmusik spielen“, erklärt Reinhold Friedel den programmatischen Ansatz und fügt hinzu: „Wir hoffen, dass es uns gelingt, einige davon zu überzeugen, mitzuziehen.“

„100 Jahre Gegenwart“. Der Auftakt: 30. 9. bis 4. 10., Haus der Kulturen der Welt, Berlin | Zeitkratzer mit Maximilian Brauer: „Vaterländische Ouverture“: 30. 9., 22 Uhr

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