Nachruf auf Stuart Hall: Eine unvollendete Unterhaltung

Er erklärte Plattencover. Und er war Mitbegründer der Cultural Studies und Theoretiker der Hybridität. Nun ist Stuart Hall gestorben.

Filmstill aus der Dokumentation „The Stuart Hall Project“. Screenshot: http://www.youtube.com/watch?v=MA-og9_-Yro

Schon im Vornamen zeigt sich das Empire: Stuart. So wie das englische Königshaus nannten seine Eltern ihren Sohn Stuart Hall, als er 1932 in Jamaika geboren wurde. Sein Name war ein Akt der Unterwerfung und des Wunsches nach Gleichberechtigung zugleich. Stuart Hall würde später dort studieren – in Oxford, im Herzen des Empire.

Aber anstatt die Aufstiegsträume seiner Eltern zu erfüllen, wurde er zu jemand anderem: Gründungsfigur der Neuen Linken, Akademiker am Centre for Contemporary Cultural Studies (CCCS) in Birmingham, öffentlicher Intellektueller. „Hall war einer der wenigen Schwarzen im Fernsehen, die nicht singen, tanzten oder davonliefen“, erinnert sich der Regisseur John Akomfrah, der einen Essayfilm über Hall gedreht hat. „Für uns war er ein Rockstar, eine Popikone mit Grips.“

Hall selbst beschrieb seine Rolle in der britischen Gesellschaft anders: „Ich konnte kein Karibe sein und ich konnte kein Engländer sein.“ Diesem Dazwischensein gab er einen Namen: Hybridität. Hall bestand immer darauf, diese Hybridität als vollwertige Existenz anzuerkennen, weil eine Rückkehr zu einem „Ursprung“ unmöglich ist – egal ob diese Rückkehr vom Rastafarianismus oder von der National Front gepredigt wurde.

Aber man tut Hall Unrecht, wenn man ihn nun als den „Paten des Multikulturalismus“ bezeichnet. Hall war kein Pate, sondern ein Partner. „Ich arbeite am besten im Team“, erzählte er einmal in einem Interview. Seine treffendsten Analysen entstanden in Zusammenarbeit mit Kollegen. In „Doing Cultural Studies“, einem Lehrbuch für die Open University, erklärt er die globale Kulturproduktion am Beispiel des Sony Walkman. „Resistance through Rituals“, eine Pionierstudie über Jugendkulturen, erarbeitete der Jazz- und Soulfan Hall in den 1970ern mit Doktoranden am CCCS.

Gegenwart als Maßstab für die Theorie

Das Populäre, so Hall, sei ein Feld, in dem eine Form von Sozialismus präfiguriert werden könne. Ansonsten interessiere es ihn nicht. Es ist eine der Punchlines, die immer wieder in Halls Texten auftauchen und denen in der Regel mehrere Seiten theoretischer Begründung vorausgehen. Hall nahm die Frankfurter Schule und den Poststrukturalismus und erklärte damit Magazincover und Seifenwerbung. „Mit den Engeln ringen“ nannte er dies einmal.

Denn anstatt als beliebiges Beispiel für das Rezitieren theoretischer Lehrsätze zu dienen, waren Gegenwart und Gesellschaft bei Hall die Maßstäbe, an denen sich die Theorie messen musste.

„Policing the Crisis“

Das Ziel war dabei weniger die Bildung einer Denkschule, sondern eine präzisere Beschreibung der Gesellschaft, die Hall als „unmenschlich“ in ihrer Unfähigkeit, „mit Differenz zu leben“, beschrieb. „Conjunctural Analysis“ nannten Hall und seine Kollegen um John Clarke und Chas Critcher ihre Methode im vielleicht bedeutendsten Text Halls: „Policing the Crisis“ von 1978.

Dort untersuchen sie die hysterische Berichterstattung über den als „schwarzes Verbrechen“ konstruierten Straßenraub mit einer Mischung aus Semiotik, empirischer Studie und Ethnologie. Diese Berichterstattung verstanden sie als Reaktion auf eine „Krise der Hegemonie“ des britischen Wohlfahrtsstaats im Angesicht von Nordirlandkonflikt und Wirtschaftskrise.

Analyse des Thatcherismus

Damit legten sie die Grundlage für Halls spätere Analyse des Thatcherismus, den er als „autoritären Populismus“ beschrieb. Laut Hall gelang es Margaret Thatcher, hinter der Rhetorik von einer über britische Werte verbundenen Gemeinschaft ein politisches Programm aus Law and Order und Privatisierungen durchzusetzen und damit ein populäres Verlangen anzusprechen, ohne es erfüllen.

Vielleicht ist dies die große Qualität von Stuart Hall: Er wollte sein Denken nicht in dem Spiel um Status und akademisches Kapital aufreiben. Vermutlich wird er auch deshalb in Deutschland von der Kulturwissenschaft weitgehend ignoriert. Das eine „große“ Buch hat Stuart Hall niemals geschrieben – im Gegenteil.

Encoding/Decoding

Seine prägnantesten Werke sind Essays wie „Enkodieren/Dekodieren“. In dieser kurzen, freundlichen Polemik erinnerte er die Medienwissenschaften daran, dass vor den Radio- und Fernsehapparaten denkende, fühlende Wesen sitzen, die durchaus fähig sind, eine Botschaft anders zu verstehen, als es diejenigen in den Sendern geplant haben.

Wie viele Texte war es ein Einwurf in eine aktuelle Debatte, kein formvollendetes Denkgebäude. Hall kommt dem, was man einen „organischen Intellektuellen“ nennt, recht nahe.

Antirassistische Kämpfe

Als Publizist und öffentliche Figur begleitete er antirassistische Kämpfe, egal ob sie sich politisch oder – häufiger – künstlerisch äußerten. Aber seine Texte fügen sich nicht zu einem Kanon. Als „unvollendete Unterhaltung“ hat Stuart Hall sein Nachdenken über Rassismus, Kultur und politische Theorie einmal bezeichnet.

Am Montag ist er im Alter von 82 Jahren gestorben. Diese Unterhaltung wird zukünftig ohne seine warmherzige und dennoch bestimmt wirkende Stimme auskommen müssen. Aber verstummen wird sie nicht.

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