Nach dem Massaker in Las Vegas: Normaler Typ, normaler Wahnsinn

Stephen Paddock erschießt in Las Vegas 59 Menschen und verletzt über 500. Debattiert wird danach über die Legalisierung von Schalldämpfern.

Eine Frau sitzt auf einem Bordstein

Der Las-Vegas-Strip in der Nacht zum Montag: Eine Überlebende des Massakers sitzt auf dem Bordstein Foto: ap

NEW YORK taz | Das Knattern begann, als Jason Aldean seinen Song „When she says Baby“ anstimmte. 22.000 Fans drängten sich auf dem Las Vegas Boulevard, dem „Strip“. Das Knattern hielten sie für den Beginn des Abschlussfeuerwerks. Doch plötzlich rannte der Musiker mit dem Cowboyhut und der Gitarre mitten in seinem Song hinter die Bühne. Das Flutlicht ging aus. Durchsagen kamen: „Geht in Deckung!“

Statt Country-Music waren nur noch die Schreie von Verletzten und das Knattern von Maschinengewehren zu hören, von denen niemand wusste, wo sie positioniert waren. Überlebende, die in der Dunkelheit nach einem Entkommen suchten, beschrieben es später als „plopp, plopp, plopp“. Die Menschen rannten und krochen in alle Richtungen. Sie suchten Schutz hinter Bierständen und Kühlmaschinen, unter Jeeps und in Ladeneingängen. Manchmal setzte das Knattern für lange Momente aus. Dann kam es wieder. 59 Menschen starben in dem Kugelhagel. 527 wurden verletzt.

Stephen Paddock benutzte ein Zimmer im 32. Stock des Mandalay Bay Hotel. Der 64-Jährige zerbrach zwei Fenster in dem Raum, den er am vergangenen Donnerstag bezogen hatte, und stellte Maschinengewehre auf Stativen auf. Gegen 22 Uhr am Sonntagabend eröffnete er das Feuer. Kurz vor Mitternacht, als die Polizei endlich den Weg zu seinem Zimmer gefunden hatte und die Tür durchbrach, war der tödlichste Schützen der US-Moderne selbst tot. „Er nahm sich vor unserer Ankunft das Leben“, sagte Sheriff Lombardo später. Derselbe Sheriff wollte zu dem Zeitpunkt auch bereits wissen, dass Paddock ein „lone wolfe“ – ein einsamer Wolf – gewesen sei. Sowie ein „heimischer Täter“, was so viel bedeutet wie: kein Muslim, kein Immigrant und kein – ausländischer – Terrorist.

In seinem Hotelzimmer hinterließ Paddock 23 Schusswaffen, darunter halbautomatische Gewehre, die zu vollautomatischen frisiert worden waren. In seinem Wagen fand die Polizei Material zur Herstellung von Bomben. Und in seinem Wohnhaus in der Rentnersiedlung Sun City in Mesquite, 130 Kilometer nördlich von Las Vegas, lagen 19 weitere Schusswaffen. „Ein sehr ordentliches und sauberes Haus“, bemerkte ein Ermittler im Anschluss an die Durchsuchung.

Weder wütend noch gewalttätig

Über die Motive von Paddock tappten die Ermittler auch 36 Stunden nach seinem Tod noch im Dunkeln. Eine Verbindung zu der islamistischen Terrororganisation IS, die von einer Erklärung aus IS-Kreisen verstärkt wurde, schloss das FBI aus. Paddock war ein Rentner, der den Behörden nie in seinem Leben aufgefallen war. Der Waffenhändler in Mesquite, der Paddock in den letzten Monaten drei Waffen verkauft hatte, berichtet von einem völlig normalen Käufer. „Wenn ein Kunde uns seltsam vorkommt, benutzen wir einen internen Code“, sagte der Waffenhändler, „bei Paddock war das nicht der Fall.“ Auch der jüngere Bruder, Eric Paddock, beschreibt den Massenmörder als einen „normalen Typ, der sich amüsiert und ins Kasino geht“. Er sei weder wütend noch gewalttätig gewesen. Auch mit politischen oder religiösen Meinungen sei er nie aufgefallen.

Das ganz normale Leben von Paddock spielte sich an zahlreichen Wohnorten quer durch die USA ab. Der Bürokaufmann ließ sich zweimal scheiden und arbeitete vor 30 Jahren zum letzten Mal in einem regulären Job. Seither handelte er mit Immobilien – womit er nach Angaben seines Bruders mehrere Millionen Dollar verdiente – und spielte. Beim Computerpokern im Kasino von Mesquite gewann er kürzlich den Jackpot von 10.000 Dollar. Er besaß zwei einmotorige Flugzeuge und hatte einen Jagdschein in Alaska.

Massenschießereien mit vier und mehr Toten gibt es fast täglich in den USA, im letzten Jahr waren es genau 335. Das registrieren die Medien allenfalls als Meldung. 33.000 Menschen kommen jährlich durch Schusswaffengewalt ums Leben, Selbstmörder inklusive. Sie tauchen meist, wenn überhaupt, als Randnotizen auf. Doch wenn eine Schießerei so groß wird wie in der Highschool in Columbine mit 13 Toten, in dem Kino in Aurora mit 12 Toten, in der Grundschule von Newtown mit 27 Toten, in der Militärbasis Navy Yard mit 12 Toten oder in dem Nachtclub Pulse in Orlando mit 49 Toten, dann unterbrechen die Sender ihr normales Programm.

Wie kann man Massaker verhindern?

Nach Las Vegas rücken die Medien zwei Themen in den Vordergrund: das stinknormale Leben des Täters. Und die Frage, wie man solche Massaker vermeiden kann. Zu Letzterem äußern sich am Montag Dutzende von Experten in den Fernsehkanälen. Sie erwägen Sicherheitskontrollen an Hoteleingängen, Drohnen über Freiluftkonzerten und erhöhte Wachsamkeit jedes einzelnen Bürgers. Auf Fox erklärt ein Moderator Ereignisse wie das von Las Vegas zu einem Betriebsunfall, der letztlich nicht vermeidbar sei.

Die Frage, wozu ein Zivilist in den USA Kriegswaffen benötigt, taucht dort nicht auf. Die Fernsehsender erörtern auch nicht, wieso Nevada, der Bundesstaat, in dem Las Vegas liegt, ein Gesetz braucht, das es jedem erlaubt, mit halbautomatischen Waffen durch die Straßen zu laufen. Sie klammern Fragen nach schärferen Käuferkontrollen sowie kleineren Waffenmagazinen aus.

Die Lobbyorganisation NRA hat es geschafft, das „Recht“ auf sämtliche Schusswaffen tief in den Köpfen der meisten Amerikaner zu verankern. Wann immer am Tag nach dem Massaker von Las Vegas jemand die Notwendigkeit von halbautomatischen Schusswaffen hinterfragt, findet sich ein Gegenredner, der den Kritiker entweder wegen mangelnder Sachkenntnis heruntermacht oder angibt, dass das eine „emotionale“ Reaktion auf ein bedauerliches Ereignis sei, aber nicht wert, die eigene „Freiheit“ aufzugeben.

Die NRA, deren Zentralorgan noch wenige Stunden vor der Schießerei in Las Vegas ein neues halbautomatisches Gewehr anpreist, geht anschließend auf Tauchstation. So hält sie es nach jedem Massaker – bloß um wenige Tage später mit neuen Werbeargumenten an die Öffentlichkeit zu gehen. Nach dem Schulmassaker in Newtown warf sie den Lehrern vor, dass sie keine Waffe getragen hätten. Nach dem Kirchenmassaker von Charleston beschrieb sie den Täter als instabil. In jedem Fall ermuntert sie US-Amerikaner zu neuen Schusswaffenkäufen. Denn: „Das beste Mittel gegen einen bösen Kerl mit einem Gewehr ist ein guter Kerl mit einem Gewehr.“

Waffenkauf soll boomen

Im Fall von Las Vegas schnellen die Aktienkurse der Schusswaffenhersteller schon in die Höhe, bevor die NRA wiederauftaucht. Am Montag verzeichnet Smith & Wesson einen Anstieg von mehr als 3 Prozent. Noch bevor die Toten von Las Vegas beerdigt sind, stellen sich die Schusswaffenhersteller auf einen neuen Boom ein.

Donald Trump hat im Wahlkampf viel Unterstützung von der NRA bekommen und ihr umgekehrt seine Loyalität versichert. Am Tag nach dem Massaker zeigt der Präsident, was er meint. Er bietet Bibelzitate und Gebete, die an fundamental-christliche Gemeinden erinnern, die jede Verbesserung auf den Tag der Wiederkehr des ­Heilands verschieben. Und er lässt erklären, dass eine Debatte über Waffenkontrolle „verfrüht“ sei.

Damit können die Gesetzgeber das bereits fertig im Kongress liegende Gesetz über die Legalisierung von Schalldämpfern annehmen. Wäre es schon am Sonntag in Kraft gewesen, wäre das „Plopp, Plopp, Plopp“ noch leiser gewesen. Und Paddock hätte noch länger töten können.

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