Nach Unruhen in Kirgisien: "Lieber in Russland Rüben ernten"

Viele Usbeken wollen Kirgisien verlassen. Sie fühlen sich nach den Unruhen weiter bedroht. Doch nur wer Geld hat, hat auch eine Chance.

Ausgebrannt: Von ethnischen Unruhen zerstörtes Gehöft in Osch. Bild: dpa

Die vierzigtägige Trauerzeit ist vorbei. Zwei Männer haben bei den ethnischen Unruhen im Juni 2010 ihre Brüder verloren. Der eine ist Diplomkaufmann mit Studium in Tübingen, der andere ein fließend Englisch sprechender Wirtschaftsjurist. Beide sind erfolgreich. Beide gingen in der kirgisischen Sowjetrepublik zur Schule, beide haben ihre Karriere nach dem Zerfall der Sowjetunion begonnen.

Der Diplomkaufmann ist Kirgise, der Jurist Usbeke. Der erste beklagt sich über einseitige Berichterstattung, der Usbeke plant die Flucht. Der 37-jährige Kirgise heißt Beg Schakirow, der 43-jährige Usbeke will seinen Namen aus Angst vor Repressalien nicht gedruckt wissen. Er heißt hier Wachid Umirow.

Der Kirgise

Beg Schakirow reiste aus China zur Trauerfeier an, wo er für eine deutsche Firma arbeitet. Sein Elternhaus befindet sich in Furkat am östlichen Rand von Osch. Über die Ausfallstraße von Furkat waren am 11. Juni tausende Kirgisen aus den Bergdörfern des Alai-Gebirges nach Osch gekommen, um Rache zu üben und die usbekischen Wohnviertel zu niederzubrennen. Bei ihnen hatte zuvor das Gerücht die Runde gemacht, dass Usbeken kirgisische Männer töten und ihre Frauen vergewaltigen würden. Was den Unruhen tatsächlich vorausgegangen ist, ist bis heute ungeklärt.

"Die Usbeken haben angefangen", erklärt Schakirow in akzentfreiem Deutsch. Er trägt einen Mittelscheitel und eine Nickelbrille zu einem weichen Gesicht. "Die Kirgisen haben sich nur gewehrt, sie sind doch so tolerant", fügt er hinzu und schaut mit braunen Augen prüfend in das Gesicht des Gegenübers. Sein Bruder Askar sei bei Beginn der Unruhen von Usbeken ermordet worden. Askar Schakirow war Abgeordneter im städtischen Parlament von Osch. Nach Aussage der Familie ist er am Morgen des 11. Juni von einem Scharfschützen bei dem Versuch, zwischen Usbeken und Kirgisen zu vermitteln, erschossen worden.

Usbeken hatten im Juni bei Furkat den Zugang zur Stadt verbarrikadiert, knapp einen Kilometer von dem Haus der Schakirows entfernt. "Die waren bewaffnet", sagt Beg Schakirow. Erst nachdem die Usbeken seinen Bruder und andere Männer erschossen hatten, hätten sich Kirgisen Waffen vom Militär geklaut und die Barrikade der Usbeken durchbrochen.

Beg Schakirow zeigt sich betroffen über die Zerstörung der usbekischen Viertel, aber er beharrt darauf, dass die Kirgisen sich nur gewehrt hätten. Die usbekischen Anführer hätten die Autonomie gewollt, obwohl doch Usbeken in Kirgisien alles hätten, sagt der Diplomkaufmann.

Der Usbeke

Im Westen der Stadt beklagt der 45-jährige Wachid Umirow den Tod von gleich zwei Brüdern. Er begeht das Ende der Trauerzeit im Haus des Vaters.

Der eine Bruder sei auf der Barrikade erschossen worden, weil er das Viertel schützen wollte, erklärt der usbekische Jurist. "Die Kirgisen hatten Unterstützung vom Militär, sie waren bewaffnet." Der andere Bruder wurde von den kirgisischen Nachbarn getötet. Das Foto der entstellten Leiche mit den abgeschnittenen Ohren hat Umirow auf einem USB-Stick gespeichert.

Die vierzigtägige Trauerzeit bedeutet für ihn nicht nur Abschiednehmen von den Toten, sondern Verabschieden überhaupt. Der Jurist will mit seiner Frau, den zwei Kindern und 40 weiteren Angehörigen nach Russland ausreisen.

Er spricht Englisch mit einem weichen Timbre und unterstützt das Gesagte mit ausladenden Gesten. "Wir Usbeken haben in Kirgisien alle Rechte verloren. Erst töten sie uns und dann demütigen sie uns", erklärt Umirow.

Das Haus seiner Familie blieb unversehrt, die mit Holzschnitzereien verzierten Wohnflügel umranden einen Garten, unter einem Dach steht das Tapschan, eine hochgestellte Sitz- und Liegevorrichtung. "Ich ernte lieber in Russland Rüben, als hier gejagt zu werden", sagt der Jurist. Tickets für die engste Familie sind schon gekauft - für umgerechnet 400 US-Dollar, "one way".

Die Stadt

Der Weg zwischen den Trauerhäusern von Beg Schakirow und Wachid Umirow führt quer durch die aufgewühlte Stadt. Das Haus der Schakirows liegt am östlichen Rand neben einer Moschee. Das Ritual der 40 Tage Trauerzeit stammt aus vorislamischer Zeit. Je mehr Menschen ein Haus aufsuchen, desto deutlicher zeugt es von der gesellschaftlichen Stellung der Familie. Der Besucher betritt das Haus, übermittelt sein Mitgefühl, betet, verzehrt eine Schale Hammelsuppe und trinkt Tee.

Zu Beginn des Trauerfestes kamen über 600 Kirgisen zu den Schakirows. Sie waren enttäuscht, dass kein Regierungsmitglied aus Bischkek gekommen ist. Aber der Bürgermeister von Osch, Melis Myrzakmatow, machte seine Aufwartung.

Myrzakmatow ist eine umstrittene Person. Schon unter dem gestürzten kirgisischen Präsidenten Kurmanbek Bakijew war er Bürgermeister, und nach den Unruhen in Osch blieb er im Amt. Er unterhält eine Privatarmee von Muskelmännern. Viele Usbeken sehen in ihm einen der Verursacher der Unruhen. Die Familie Schakirow ist dem Bürgermeister dankbar. "Ohne ihn wäre alles noch viel schlimmer", sagt der Vater, "wenn er abtritt, wird Blut fließen."

Auch einige Usbeken haben sich zu den Schakirows gewagt, alte Nachbarn, die jedoch erst zwei Tage später kamen, um nicht auf Kirgisen zu treffen. Der Vater habe während der Unruhen trotz des ermordeten Sohnes drei Usbeken im Haus vor dem Zorn seiner Landsleute versteckt, erklärt Beg Schakirow.

Unweit des Hauses der Schakirows liegt ein usbekisches Viertel in Trümmern. Die Überlebenden hausen in Zelten. "Wir begehen die 40 Tage Trauerzeit nicht", sagt ein Usbeke unwirsch, dies sei keine islamische Tradition. Die Frauen erklären, dass sie aus Angst vor den Kirgisen das Fest nicht ausrichten würden.

Im Stadtzentrum träumt der Bürgermeister von der Neuplanung der Stadt. Er will anstelle der zerstörten usbekischen Einfamilienhäuser Mietkasernen errichten lassen.

Neben seinem Amtssitz in Sichtweite eines monströsen Lenindenkmals kampieren Kirgisen, deren Angehörige seit den Unruhen als vermisst gelten. Ihre Fotos hängen im ganzen Land aus, und das kirgisische Fernsehen verklärt sie zu Helden. Doch keiner fragt, was ein vermisster Kirgise aus den Bergen in einem usbekischen Viertel gemacht haben könnte, als dort im Juni die Häuser brannten.

Der Basar

Auf dem Weg zu Wachid Umirow liegt der zentrale Basar. Früher bot der Marktplatz Arbeit für 10.000 Menschen, überwiegend Usbeken. Seit Ewigkeiten wird hier gehandelt. "Friede der Welt" steht über dem Eingang zum Flussufer. Die Läden sind eingerissen, überall liegen Müll und Trümmer herum, in der Luft hängt der Geruch von Verwesung. Einige Container, auf denen das Wort "Kyrgyz" steht, sind unangetastet. Nur in der Gewürzabteilung verteilen die verstreuten Gewürze ein schweres Aroma. Hier und da wühlen einige Usbeken nach Habseligkeiten.

Die Usbeken in Osch leben in ständiger Angst vor Verhaftung und Schikanen. Human Rights Watch und die UN beklagen die einseitige Verfolgung der Usbeken durch die kirgisischen Sicherheitskräfte. Die amerikanische Menschenrechtsorganisation, die in Osch vertreten ist, registrierte Fälle von Folterung. Bisher wurde kein Kirgise wegen der Plünderung usbekischer Viertel verhaftet.

Zu der Gewalt kommen Schikanen. Als Wachid Umirow den Totenschein für einen Bruder holen wollte, wurde er im Meldeamt beschimpft und bedroht. "Haben wir nicht genug von euch getötet", soll die kirgisische Amtsleiterin gesagt haben.

"Mit dem Tod der Brüder könnte ich zurechtkommen, aber mit den Demütigungen nicht", sagt der Jurist und legt den unter Schikanen erhaltenen Totenschein auf den Tisch.

In wenigen Tagen wird er Osch verlassen. Kirgisien verliert damit einen solventen Steuerzahler. Über umgerechnet 15.000 US-Dollar hat der Jurist an Steuern und Sozialabgaben im letzten Jahr geleistet.

Wie er wollen die meisten Usbeken aus Osch fliehen. Wer sich die teuren Flugtickets nach Russland nicht leisten kann, sitzt in der Falle. Die kirgisischen Behörden blockieren den Weg zur usbekischen Grenze, Usbekistan wiederum will die flüchtenden Menschen nicht aufnehmen.

Die Flugtickets nach Russland sind teuer, und am Ticketschalter, bei der Passkontrolle und im Transitbereich warten Schikanen. Schlimmer ist der Landweg. Der Neffe Umirows hat es versucht. Eine Kirgisin hatte für 100 Dollar zugesagt, den Bus voller Usbeken ohne Anfeindung über die Berge an die kasachische Grenze zu bringen. Beim ersten Checkpoint in Furkat war die Reise zu Ende, die Führerin flüchtete. Die Polizei holte die Usbeken aus dem Bus, beschimpfte sie und verweigerte die Weiterreise.

Auch der Kirgise Beg Schakirow hat Osch wieder verlassen. Er kehrte zu seiner Arbeit nach China zurück.

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