Mit dem Kreuzfahrtschiff in der Eiswildnis: Ein Sturmtief über Island

Mit dem Schiff von Reykjavík entlang der Westküste Grönlands in die Diskobucht. Auf der Suche nach der Arktis und dem Gefühl des unendlichen Winters.

Bizarre Eislandschaft vor Ilulissat in der Diskobucht. Bild: imago/Eisend

Am Anfang dieser Reise stand ein Kindheitstraum mit Schlittenhunden, Gletscherbrüchen und tödlichem Packeis.

Das Schiff gleitet aus dem Hafen von Reykjavík. Auslaufende Schiffe aktivieren glückssteigernde Substanzen. In der Bar spielt ein Pianist. Noch vor dem Dinner teilt der Kreuzfahrtdirektor eine Kursänderung mit: ein Sturmtief über Island.

Nach dem dritten Gang geht es los: über zehn Meter hohe Wellen, Bestecke rutschen weg, die Schubladen der Serviertische knallen raus, ein Dame stürzt, ein Handgelenk bricht. Das betrunkene Ein- und Untertauchen des Schiffes wird immer heftiger – wird zum Selbstverlust. In der Horizontalen lässt sich das nicht enden wollende Torkeln und Taumeln angeblich besser ertragen. Der andere Nachbar sitzt bei offener Kabinentür mit Schwimmweste im Bett.

Warum tun sich ermüdete Großstadtmenschen das an?

Die Tischnachbarn aus Schwerin und Wien haben schon 20 Kreuzfahrten hinter sich – die Arktis ist für sie eine „noch unbekannte Destination“. Die Frau aus Erfurt sucht „ein Gefühl des unendlichen Winters“.

„Frau tot, Hund tot, Kinder erwachsen, Haus zu groß“ sind die vier Gründe, die einen Mittsiebziger reisen lassen.

„Noch einmal Eisberge sehen, dieses verschwenderische weiße Eis, das ist der Anfang und das Ende der Welt“, sagt die 75-jährige Blonde. Die Arktis reinigt das Leben zum Schluss, so die Theorie.

„Bei der letzten Reise waren drei 90-Jährige dabei“, sagt die Reiseleiterin und zieht an ihrer Zigarette.

Mehrfach täglich ertönt die Stimme des Kreuzfahrtdirektors via Lautsprecher, um Hinweise zu geben. Eine Pflichtveranstaltung: die Nutzung der Zodiacs, überdimensionierte schwarze Gummiboote. „Bitte stehen Sie nicht einfach auf“, sagt der Expeditionsleiter und Pinguinforscher mit rauchiger Stimme. „Hören sie auf den Steuermann des Zodiacs, auch wenn Sie in ihm den Kellner aus dem Restaurant erkennen. Er sagt ihnen hier, wann Sie aufstehen dürfen – anders als im Restaurant.“

Pinguine gibt's hier nicht

„Wo sind denn die Pinguine?“ „In der Arktis gibt es keine Pinguine, liebe gnädige Frau.“ „Aber auf den Bildern waren sie doch immer.“ Prospekte, TV-Dokus – die Reiselektoren kämpfen mit den Auswirkungen einer mediatisierten Welt.

Alles an Bord ist getimet: der Tag startet um 5.30 Uhr mit einem Early-Birds-Frühstück und endet mit einem Spätimbiss in eleganter Freizeitkleidung um 23 Uhr.

Disziplin- und Strukturlosigkeit im Eis machen wahnsinnig oder führen in den Tod, wusste schon der Polarforscher Ernest Shackleton. Als sein Segelschiff „The Endurance“ im Packeis stecken bleibt, kann sich die Crew nur retten, weil Shackleton Tage und Nächte strengstens durchorganisiert. „Nein, Zwangsjacken haben wir nicht Bord“, sagt der Kreuzfahrtdirektor beleidigt. Zu der Anzahl der Särge an Bord möchte er sich allerdings nicht äußern.

Die Plattenbauten von Nuuk

Nuuk, die Hauptstadt Grönlands, kommt in Sicht. Keine architektonischen Highlights. Überwiegend Plattenbauten. Der Supermarkt von Nuuk könnte auch in Hückeswagen stehen. Ein Flaschenautomat und eine Lottoscheinannahme am Eingang.

Dann die erste Fahrt mit den Zodiacs. Es stinkt nach Diesel. Ein über 70-jähriger Mann hockt tapfer auf dem schwarzen Gummiwulst des Bootes. Es ist kalt. Der Alte trägt keine Mütze, keine Handschuhe, keine Socken. Die Haut an seinen bloßen Fesseln ist hauchdünn.

Der Zodiac biegt in den kleinen Fjord ein. Erste kleinere Eisschollen werden euphorisch begrüßt. Mehr Eisschollen. Treibeis. Kleine Eisberge nähern sich. Zwischen den Eisbrocken am Ufer eine poetische Kulisse – ein Schiffswrack, dann das zweite, das dritte – brauner unheroischer Rost. Plötzlich scheinen sie alle da zu sein, die berühmten Schiffe aus der Geschichte der Polarexpeditionen: die „Endurance“ von Shackleton, die „Windward“ von Peary …

Nach knapp zwei Stunden geht es mit präfinalem Gang wieder zurück an Bord – zu Kaffee und Törtchen. Das Draußen bleibt draußen. Hoch die Tassen – heute Nacht überschreitet das Schiff den Polarkreis.

Das Highlight: die Diskobucht

Endlich polare Architektur: die Diskobucht – ein Highlight der Reise. Soweit das Auge reicht schwere, ineinander verkeilte Eisblöcke. Alles scheint aus Kristall oder Marmor: „Da schwimmen der Steinkreis von Stonehenge, die Pyramiden von Gizeh.“ Die weitgereisten „Kulturmenschen“ glauben in der Eiswildnis alle Kulturdenkmäler der zivilen Welt wiederzuerkennen.

Nach knapp drei Stunden sitzen alle wieder im gut beheizten Grand Salon. Der Redefluss der Weitgereisten und Fernbewärmten kennt kein Ende. Sie bewerten und vergleichen immer und überall: an Bord, im Zodiac, vor den Eisbergen. „Im Himalaja war das so – in der Antarktis so.“

Nach zehn Tagen an Bord steht fest: So eine Kreuzfahrt ins Eis ist kein einfaches Reiseformat. Es gibt kein Entrinnen – niemand kann dieses Schiff verlassen. Die Eismöwen schreien. Eismöwen sind Oberflächenfresser – Kreuzfahrtpassagiere auch.

Alles ist wie hinter Glas, unwirklich, weit entfernt. Nur selten dringt die Kälte durch. Wenn doch bloß mal so ein Zodiac kentern würde. Nichts. Eine weitere Zodiac-Fahrt, ohne dass ein Mann oder auch nur ein Handschuh über Bord geht.

Eine gescheiterte Expedition

Der Pinguinforscher sitzt in der Poolbar und raucht. Die streng strukturierten Tagesabläufe und diese informative Betulichkeit an Bord haben etwas Toxisches.

War die Hinfahrt voller überspannter Erwartungen und Vorfreude, so fühlt sich diese Rückfahrt vollkommen unheroisch an – wie eine der gescheiterten Expeditionen, eine von denen, die den Pol verfehlten.

Viele der Passagiere sind einander überdrüssig. Zu viel Kuchen, zu wenig Schrecken im Eismeer. Was sagt noch Nietzsche? Das Individuum muss sich der Kälte aussetzen, denn wer sich nicht von der wärmenden Gemeinschaft zu lösen weiß, bleibt unerfüllt.

Diese Arktis-Kreuzfahrt endet nach 17 Tagen ohne Tote, ohne Meuterei und Kannibalismus wieder in Reykjavík.

Fazit: eine Arktis-Kreuzfahrt ist kein Ort für Kindheitsträume. Das ist fernbewärmter Erlebnistourismus ins Eis – ein ökonomisch wohl kalkuliertes Ereignis. An Bord feiert man die gelungene Logistik – die perfekte Organisation der Reise.

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