Max Riegers Album „Welt in Klammern“: Wenn das Denken Flügel bekommt

Riegers neues Drone-Pop-Album „Welt in Klammern“ schubst die Hörer in eine somnambule Welt, in der Dinge schleichend ihre Gestalt ändern.

ein junger Mann vor einem Tonbandgerät

Max Rieger in seinem Stuttgarter Studio Foto: Imago/Lichtgut

Es ist dieser Zustand, in dem man beim Einschlafen gerät: Gerade noch waren die Gedanken bei einer Sache, die man erlebt oder noch vor sich hat und plötzlich rutscht weg, was wir für die Realität halten. Ein vertrautes Gesicht sieht plötzlich ganz anders aus. Oder man murmelt einen Satz vor sich hin, der im wachen Zustand keinen Sinn ergibt, in diesem Moment aber ganz logisch erscheint. Hypnagoge Phase nennt die Forschung dieses Zwischenreich zwischen Wach- und Traumbewusstsein.

Max Rieger, bekannt geworden als Sänger und Gitarrist der Stuttgarter Post-Punk-Band Die Nerven, macht mit seinem Solo-Projekt All Diese Gewalt Musik, die seine Hörer in einen vergleichbaren mentalen Zustand führt, unabhängig von der Tageszeit. Von seinem neuen Album „Welt im Klammern“ wird man hineingeschubst in eine somnambule Welt, in der Dinge schleichend ihre Gestalt ändern und Assoziationsketten entstehen.

Die ersten Zeilen des Auftaktsongs „Wie es geht“ klingen wie ein Manifest: „Ich kann es spüren/ hinter den Dingen/ unter der Struktur/ dreht sich immer weiter/ verweigert seine Form/ verneint seine Figur“. Zugleich wird man von der „Welt im Klammern“, die Rieger entwirft, in Behaglichkeit eingelullt, die fast irritierend ist. Die Musik scheint zu schweben, vermeintliche Gegensätze werden in Ambivalenzen überführt: Sein Sound wirkt stur und doch hat doch einen federnden Drive, unter der kühlen, meditativen Oberfläche gärt und brodelt es, die Melancholie verspricht zugleich Tröstung.

„Oft entsteht meine Musik aus einem Delirium heraus: Ich habe viel zu viel gegessen oder bin todmüde. Wenn ich mich diesem Zustand ergebe, wird ein Mantra draus, so entstehen die interessantesten Sachen“. Vollgefressen kann man sich den blonden, eloquenten Schlaks kaum vorstellen, als Schlafvermeider, dessen Kerze nachts besonders hell brennt, schon eher. (Mittlerweile wohnt er übrigens am Rand von Leipzig, weil er da für wenig Geld einen Raum anmieten konnte, in dem er Nachts laut sein kann) „Übernächtigt zu sein ist die beste Droge überhaupt“, erklärt der 23-jährige Rieger dann auch.

Bewusstseins-Strom-Musik

„Weil man sich so dem Wahnsinn besser stellen kann. Diesen Zustand versuche ich bewusst zu provozieren. So komme ich an einen Punkt, an dem ich über mein Denken hinaus gehe. Sachen, die ich tagsüber wegrationalisiere, kommen hoch. Ich nehme das dann einfach so hin, es wird ein Teil von mir. Für mich ist das der ideale Moment, mit der kompositorischen Arbeit anzufangen. Die Worte sind ja auch vorher schon da, aber eben noch nicht in dieser Kombination.“

Einen Zustand, in dem man keine Entscheidungen treffen muss, sondern sich ergeben kann. Bewusstseinsstrommusik, bei der sich das Gefühl einstellt, nicht einzelnen Songs zuzuhören, die einem fortlaufend wechselnde Stimmungen und Narrative anbieten, sondern in der man sich verlieren kann, als wäre Riegers Album ein langes Stück. Perfekt für einen nächtlichen Spaziergang auf leeren, regennassen Straßen. Oder für einen Tag auf dem Sofa, während draußen graue Wolken vorüberziehen.

All diese Gewalt: „Welt in Klammern“ (Staatsakt/Caroline International/ Universal)

Live: 18.10. Hamburg „Golem“, 19.10. Essen „Hotel Shanghai“, 20.10. Köln „Arttheater“, 21.10. Frankfurt „Mousonturm Studio“, 22.10. München „Import Export“, 24.10. Berlin „Roter Salon“

Fertig gestellt hatte Rieger das Album bereits vor einem Jahr, damals entschieden Rieger und Maurice Summen, Chef des Labels Staatsakt, dass diese Musik in den Herbst gehört und haben ihre Veröffentlichung verschoben. Drone-Pop sagt Rieger zum Sound auf „Welt in Klammern“, der so viel organischer wirkt als sein Solo-Debüt „Kein Punkt wird mehr fixiert“ (2014). Das klang viel scharfkantiger und hatte Proberaumcharakter. Drone als Begriff macht durchaus Sinn, weil alle Songs, obwohl sie auf recht unterschiedliche Weise entstanden sind, als Ausgangspunkt eine Klangfläche, eine konstanten Ton hatten, eben einen „organisch-ambienthaften Drone“, wie Rieger das Vibrieren nennt, um das herum er seine Melodien gebaut hat.

Und als Pop bezeichnet der Stuttgarter seine Musik, weil er nicht nur eine Nische bedienen will und glaubt, dass „alles Pop sein kann, wenn man der Musik die Möglichkeit dazu gibt“. Tatsächlich ist zum Beispiel der entfernt an The xx erinnernde Song „Maria in Blau“ ein echter Ohrwurm. Rieger hat im Produktionsprozess sehr viel Zeit mit seiner Musik verbracht. Aus 160 Songs hat er zehn ausgewählt und diese nochmals neu zusammengesetzt, nicht zuletzt, weil sie aus unzähligen Spuren bestehen, von über 200 pro Track ist die Rede. Dazu kommt ein sanft dröhnender Bass, erstaunlich eingängige Synthiehooks, aber auch Vogelgezwitscher und andere Field-Recordings.

Rieger sagt, dass ihm das Album „sehr geholfen habe“. Benennen kann Rieger den Zustand allerdings nicht, in den ihn seine hypnotische, ruhige, im New Wave verwurzelte Musik transportiert hat „Sonst wäre ich ja Schriftsteller geworden“ Und, fügt er hinzu, „ich finde gut, dass ich nicht alles erklären kann. Musik muss das leisten können, dass Dinge passieren, die ich nicht in Worte fassen kann. Sonst könnte man sich ja die Musik sparen und die Worte benutzen.“

Gegenentwurf zu „Die Nerven“

Ein solche Vertrauen in das versunken Intuitive könnte leicht esoterisch oder pathostriefend wirken – was es aber im Fall von „Welt in Klammern“ aber nicht tut. Eben, weil, wie eingangs erwähnt, die Songs in einem Schwebezustand bleiben, weil sich die Musik sperrt, wenn man sie greifen will, und doch weiter mäandert. Weil Riegers Songs unter die Haut kriechen und gleichzeitig in die Ferne schweifen und Räume aufmachen. Im Song „Jeder Traum eine Falle“ heißt es dazu passend: „Und alles was du sagst/ prallt an den Wänden zurück/ Und alles was du denkst/ bekommt Flügel und fliegt weg.“

Vielleicht ist das die größte Leistung dieses Albums: etwas Romantisches zu wagen, das sich dem Diskurshaften entzieht, zu dem die alternative deutsche Rockmusik eine große Affinität hat – und dass, ohne dabei verschwurbelt und gefühlig zu wirken. In gewisser Weise ist das ein Gegenentwurf zu dem, was Rieger mit seiner Band Die Nerven macht – die übrigens weiterexistieren, auch wenn er momentan nicht in Stuttgart wohnt. „Ich will mir eben nichts erzählen lassen und will auch niemandem was erzählen“, sagt Rieger dazu trocken. Man darf dankbar sein, dass er das seiner Musik überlässt, die so eigenwillig zu ihren Hörern spricht.

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