„Lebensort Vielfalt“ für LGBTQI: Schutz und Vorurteil

Am Bahnhof Ostkreuz in Berlin steht seit einem Jahr ein Haus. Die Mieter*innen: queere Menschen, die ohne Hilfe ihren Alltag nicht bewältigen können.

Ein Mann mit Maske steht in einer Küche

Florian Königs Vater darf nicht wissen, wo er wohnt. Deshalb die Maske, deshalb ein Pseudonym Foto: Anja Weber

An Florian Königs Zimmertür klebt eine Postkarte. Darauf ist der Kopf eines Einhorns mit Mähne in Regenbogenfarben abgebildet. Daneben ist ein Spruch zu lesen: „Die Realität ist was für Leute, die Angst vor Einhörnern haben.“

Florian König ist in seinem Zimmer verschwunden; als er die Tür wieder öffnet, entschuldigt er sich. Er habe gerade geschlafen, im Zimmer sei es stickig, er wollte das Fenster öffnen, bevor er jemanden reinlässt.

Beim Eintreten zieht sich die elektrische Jalousie noch nach oben. Stück für Stück erhellt die Spätnachmittagssonne die 14 Quadratmeter, auf denen er lebt: eine Hertha-BSC-Fahne an der Wand, eine Gryffindor-Strickmütze auf der Heizung, Pappschachteln mit Medikamenten auf dem Nachttisch.

Florian König wohnt im „Lebensort Vielfalt“ der Schwulenberatung Berlin, direkt am Bahnhof Ostkreuz in Berlin-Friedrichshain. 28 Zimmer hat das Haus. In vier Wohngemeinschaften leben hier seit Sommer 2018 homo-, trans- und intersexuelle Menschen, die Eingliederungshilfe beziehen; Leute, die Unterstützung erhalten, weil sie eine seelische, geistige oder körperliche Behinderung haben, die es ihnen schwer macht, im Alltag allein klar zu kommen. Es ist das einzige Wohnprojekt dieser Art in Berlin. Die Miete bezahlt das Jobcenter oder das Sozialamt.

Der Neubau mit den großen Balkons und den bodentiefen Fenstern steht mitten im belebten Kiez. Das Viertel ist begehrt, die Mieten sind hoch. Unter normalen Umständen würde kaum ein*e Bewohner*in des „Lebensorts Vielfalt“ hier eine Wohnung finden.

Soziales Haus mit hohen Decken

Florian König erlaubt nur einen kurzen Blick ins Zimmer, unterhalten möchte er sich lieber im Besprechungsraum. Würfelförmige graue und türkisfarbene Sessel stehen dort auf einem dunklen Plüschteppich. König trägt schwarze Jogginghose und rosa Shirt und hat die Hände über dem Bauch verschränkt. Ein Schriftband, geschmückt mit Blättern, schlängelt sich als Tattoo über seinen Unterarm. Ein keltisches Schutzsymbol.

Schutz – das ist, was er sucht. Er ist nach wie vor erschöpft von der Operation, die er vor zwei Wochen hatte. Schmerzen hat er auch noch. Ihm wurden beide Brüste entfernt. Florian König ist transsexuell. Doch deshalb wohnt er nicht in der Wohngemeinschaft der Schwulenberatung. „Ich habe eine Anpassungsstörung, eine Persönlichkeitsstörung, Depressionen, eine posttraumatische Belastungsstörung und Angst- und Panikattacken“, sagt er. „Also einmal alles abgegrast.“ Er ist psychisch so belastet, dass er neben einer Therapie zusätzlich persönliche Assistenz braucht, eine Bezugsperson. Seine heißt Marie Zimmermann und sitzt mit beim Gespräch dabei.

Alle Bewohner*innen im „Lebensort Vielfalt“ haben so eine feste Bezugsperson. Zimmermann ist 25, hat orangefarbene Haare, studiert soziale Arbeit und gibt bald ihre Bachelorarbeit ab. Im Wohnprojekt betreut sie drei Bewohner*innen. Sie hilft bei Schuldenproblemen und allem, was anfällt. Jeden Freitag leitet sie auch eine Kochgruppe. „Da müssen wir keine Formulare ausfüllen oder so was und kommen uns nah“, sagt sie.

Marie Zimmermann begleitet König auf seinem Weg, seiner Transition. Sie geht mit ihm zum Arzt, hilft bei Anträgen, gibt Zuspruch. Sie spricht liebevoll und mit viel Respekt über die Bewohner*innen des Hauses. Als König erzählt, dass er sich nach seiner Operation vollkommen fühlt, nickt sie. „Es ist das erste Mal in meinem Leben, dass ich voller Stolz sagen kann, dass ich meine Arbeit liebe“, sagt Zimmermann. Für sie sei es das wichtigste, den Menschen im „Lebensort Vielfalt“ ein Zuhause zu geben, wo sie so sein können, wie sie sind.

Das war auch das Ziel von Christoph Wagner und Ulrich Vogl, als sie 2014 gemeinsam mit Bekannten das leere Grundstück am Ostkreuz kauften, auf dem heute das Haus steht. Wagner ist Architekt, Vogl ist Künstler. Die beiden sind seit 17 Jahren ein Paar. In Wagners Büro in einem Hinterhof nahe dem Hermannplatz erzählen sie von ihrer Motivation.

An einer Wand hängt ein Schild mit Einhorn und dem Spruch:"Die Realität ist was für Leute, die Angst vor Einhörnern haben".

Und was, wenn man Angst vor der Realität hat? Foto: Anja Weber

„Es gibt zu wenig Flächen für betreute Wohngemeinschaften in Berlin, nicht nur im LGBTQI-Bereich“, sagt Wagner. Er und die Gruppe, die das Grundstück am Ostkreuz gekauft haben, hätten die finanziellen Mittel gehabt, um Raum für ein solches Projekt zu schaffen. „Wir haben einfach die Schwulenberatung angerufen, die sofort sehr interessiert war“, sagt Vogl.

Die Schwulenberatung ist Mieterin des Hauses, das Wagner entworfen hat. Mit der Miete werden die Baukosten in den nächsten 30 Jahren refinanziert. Profit machen Wagner und Vogl mit dem Haus nicht. Wagner hat das Projekt gereizt, weil die Gestaltung des Hauses in seiner Hand lag. „Für eine soziale Einrichtung haben wir sehr hohe Decken, weil wir ein Stockwerk weniger gebaut haben, als möglich gewesen wäre“, erklärt der Architekt. Weitere Vorzüge: Holzfenster, echtes Linoleum, Balkons an jedem Zimmer.

Alle in Uniform

All das zeigt Florian König bei einem Rundgang durchs Haus und seine WG. Direkt hinter der Wohnungstür ist die große Küche mit dunkelblauem Fußboden und hellen Möbeln aus Holz. Ein halbnackter Muskelmann lächelt von einem Kalender an der weißen Wand herunter. Es sieht hier alles nach Wohnheim aus, nur geschmackvoller de­signt. König zeigt auch den kleinen Gemeinschaftsbereich mit Balkonzugang, in dem ein paar Sessel stehen. Ein Teil des Balkons, der sich über die gesamte Front des Hauses erstreckt, ist an einer Stelle mit einem Stück Stoff abgesperrt. Überbleibsel eines Konflikts zwischen einer Bewohnerin und einem Bewohner. „Das sind eben die Gruppendynamiken“, sagt seine Assistentin Marie Zimmermann.

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Florian König hat im „Lebensort Vielfalt“ ein Zuhause gefunden. Endlich fühlt er sich als transsexueller Mann zugehörig und angekommen. In seiner Familie verstand man ihn nicht.

Zum ersten Mal beschäftigte ihn seine Transsexualität, als er fünf Jahre alt war. Seine Eltern hätten das Thema aber sofort abgeblockt. Florian Königs ältere Geschwister verlangten der Mutter und dem Vater alle Aufmerksamkeit ab. Sein Bruder hatte psychische Probleme, eine Schwester eine geistige und körperliche Behinderung. „Es hieß dann immer: Mach mal keine Probleme, setz dich in dein Zimmer, sei still, wir brauchen Ruhe“, erzählt er. Sein Vater war gewalttätig. Es gab häufig blutige Auseinandersetzungen mit Königs Mutter, oft stand die Polizei vor der Tür.

Seine Eltern trennten sich, als er 17 war. Er zog zu seinem Vater, mit 21 outete er sich als transsexuell. Sein Vater, rechtsextrem und Mitglied einer Rockergruppe, warf ihn raus. „Er hat damals gesagt, dass er und seine Leute mich finden und umbringen würden“, sagt Florian König, der deshalb in diesem Text ein Pseudonym hat. Er möchte nicht, dass sein Vater weiß, wo er wohnt.

Die Vergangenheit versucht er hinter sich zu lassen. Seit er im „Lebensort Vielfalt“ wohnt, hat er mehr Kraft, sich seinen kreativen Hobbys zu widmen. Er spielt Gitarre und modelliert Figuren. Und er schreibt gerne. Eins seiner Gedichte mit dem Titel ,Boyscout' erzählt von seiner Zeit bei den Pfadfinder*innen. Die anderen kannten ihn nur als Mädchen. „All in uniform they think I understand“, schreibt er in einer Strophe. Und ein paar Verse weiter: „I was never one of them.“

Wie lange will er in der Wohngemeinschaft bleiben? „Also ich sage immer, bis ich 80 bin“, antwortet er. Aber irgendwann möchte er schon ausziehen, eine eigene Wohnung finden. Vielleicht macht er sein Abitur und studiert. Vielleicht konzentriert er sich aufs Schreiben. So weit ist es noch nicht. Im Moment ist er überwältigt von den vielen schönen Dingen, die ihm in letzter Zeit passiert sind: das Zimmer im Wohnprojekt, die Unterstützung, die Brustangleichung. „Bei mir ist es gerade Schrittchen für Schrittchen, jeden Tag neu.“

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