Kulturhauptstadt 2011: Tallinn, Stadt in der Pubertät

Man sagt über die Esten, sie seien künstlerisch veranlagt. Das sieht man vor allem in Tallinn. Die Kulturhauptstadt 2011 präsentiert sich als bunte Metropole.

Tallinn hieß früher Reval und war als Hansestadt an der Ostsee bekannt. Bild: Steffi Dobmeier

TALLINN taz | Vergänglich sollte es sein. So wie ein Besuch im Theater eben vergänglich ist. Ein schöner Abend, der nachwirkt, der nach einigen Stunden aber vorbei ist. Deshalb ist das Gebäude aus nichts außer Stroh gebaut. Es ist das erste Theater der Welt, das ausschließlich aus natürlichen Baustoffen besteht – einer der Höhepunkte des Kulturjahres 2011 in Tallinn.

Der schwarze Komplex thront auf einem kleinen Hügel nördlich des historischen Altstadtkerns. In zwei Monaten wurde das Gebäude aus über 9000 Strohwürfeln gebaut, mit schwarzer Farbe besprüht und gegen Brandgefahr imprägniert. Grobe Steinstufen führen zum Eingang, vorbei an kleinen Tischen und Eisenstühlen.

Innen riecht es süßlich und ein bisschen feucht, wie auf einem Bauernhof. 250 Menschen haben auf den Klappstühlen der steilen Tribüne Platz. Der Raum erinnert an eine Schulaufführung, ein bisschen provisorisch fast, aber mit dem Anspruch, höchst professionell zu sein. Die Besucher werden hier Theateraufführungen verschiedener internationaler Künstler sehen, Raum- und Lichtinstallationen. Junge Lyriker werden ihre Gedichte vortragen, Autoren aus ihren Büchern vorlesen. Es sind auch Gastspiele deutscher Theater zu sehen, Ende Juni ist die Volksbühne Berlin mit dem Stück „Am Beispiel des Hummers“ mit Samuel Finzi in der Hauptrolle zu Besuch.

Die Videokünstlerin und Regisseurin Ene-Liis Semper hatte die Idee zu diesem Strohtheater, dieser künstlerischen Installation, die mehr sei soll als nur ein Ort für Theaterbesuche. Das Gebäude steht auf den Ruinen des alten russischen Militärtheaters, die steinernen Reste sind auf dem Gelände verstreut, Teile der Treppenstufen zeugen von der Vergangenheit.

Das kleine Land mit den rund 1,3 Millionen Einwohnern gilt als Musterland des Baltikums. Die Loslösung von der Sowjetunion ist als "Singende Revolution" bekannt und vollzog sich weitestgehend friedlich. Bis zur Weltfinanzkrise waren die Wirtschaftszahlen sehr gut, das Bruttoinlandsprodukt wuchs nach Ende des Kalten Krieges stetig, die Arbeitslosenquote halbierte sich zeitweise.

Mit der Wirtschaftskrise kam der Einbruch – doch Estland erholt sich wieder. Immer mehr Unternehmen siedeln sich an, der Bausektor wächst und die Exportquote steigt. Seit 2004 ist Estland EU-Mitglied, als erster baltischer Staat wurde dort im Januar 2011 der Euro eingeführt.

„Früher war das hier ein abgeschotteter Ort“, erzählt Paul Aguraiuja. Der 30-Jährige ist Hauptproduzent des Theaters. „Man konnte sich kaum frei bewegen.“ Das soll nun anders werden. „Das Gelände ist jetzt ein öffentlicher Raum, das Theater soll ein Ort der Begegnung sein“, sagt er.

Jung und flexibel

Ausgezeichnet: Das Kumu Art Museum in Tallinn bekam den „European Museum of the Year Award 2008“. Bild: Steffi Dobmeier

Auf der Wiese steht ein großer Sandkasten, auf den Wegen rund um den Bau sind Straßenspiele gemalt. Kinder sollen hier herumtollen, Jugendliche auf der Wiese sitzen, Erwachsene spazieren gehen. Und wenn das Jahr vorbei ist und Tallinn den Titel als Europäische Kulturhauptstadt an Guimareas in Portugal und Maribor in Slowenien weitergereicht hat, wird der Bau zerstört. Man wird die Strohballen abtragen und im Meer versenken.

Tallinn hat sich viel vorgenommen in diesem Jahr. Mit einem kleinen Budget von rund 16 Millionen Euro – es ist eines der niedrigsten Budgets, das je einer Europäischen Kulturhauptstadt zur Verfügung – hat die Stadt 250 Projekte gestartet, bis Oktober sind etwa 7000 Veranstaltungen zu sehen. Die estische Hauptstadt will zeigen, dass sie mehr ist als der neue kleine Bruder in der Europäischen Union. Ein bisschen erwachsen. Nicht mehr der Teenager, für den selbst viele Esten ihr Land noch immer halten.

„Die Stadt ist jung, flexibel und entwickelt sich schnell“, sagt Marje Josing, die Direktorin des estnischen Konjunkturinstituts. Und fügt mit einem Lächeln hinzu: „Aber Tallinn ist auch unerfahren und oft genug ein bisschen dumm.“ Wie ein pubertierender Jugendlicher eben.

„Es wäre schade, wenn dieser Ort wieder ein bedeutungsloser Platz im Herzen der Stadt wird“, sagt Paul Aguraiuja, Hauptproduzent des Strohtheaters. Bild: Steffi Dobmeier

Die Unerfahrenheit ist mancherorts spürbar, aber nicht uncharmant. Vielmehr besticht Tallinn mit unverstellter Authentizität. In der Unesco-prämierten Altstadt die mittelalterlichen Kneipen und grobes Kopfsteinpflaster, der Domberg mit dem Blick auf das Meer, eine ehemaliges Fabrikviertel, das zum Szene-Stadtteil wird, am Hafen kleine Designerläden, dazwischen winzige Restaurants und ein großes Kunstmuseum. In einer kleinen Gasse ein Literaturtreffpunkt, zu dem nur derjenige Einlass findet, der von mindestens drei Kulturschaffenden der Stadt empfohlen und in Form einer Mitgliedskarte für passend befunden wurde.

Militärisches Sperrgebiet

„Geschichten am Meer“ – mit diesem Motto will sich die Stadt von seiner kreativen, erwachsenen Seite zeigen. Ein Leitspruch, der auf den ersten Blick nicht verwundert. Immerhin liegt die Stadt, die einst als Hansestadt Raval bekannt wurde, direkt an der Ostsee. Kreuzfahrtschiffe legen hier mehrmals am Tag an und spucken Touristen an Land, aus Helsinki kommen hunderte Finnen, um in einem der großen Getränkemärkte am Hafen günstig Alkohol zu kaufen.

Und obwohl das Wasser von jedem Kirchturm aus zu sehen ist, haben die Tallinner nur wenig Bezug zum Meer. Es gibt keine Strandpromenade, keine Cafés mit Meerblick und der Hafen ist nicht viel mehr als ein Parkplatz für Schiffe. Ein Erbe aus der Zeit, als die Stadt noch militärisches Sperrgebiet war. Während des Kalten Krieges reihten sich Zäune am Strand, die verhindern sollten, dass die Menschen über das Meer in Richtung Finnland oder Schweden flüchten. Das hat Spuren im Leben der Esten hinterlassen.

Doch auch das soll nun anders werden. Die Stadt will sich als Europäische Kulturmetropole dem Meer wieder neu öffnen. Die meisten der Veranstaltungen finden deshalb am Kulturkilometer entlang der Küste statt. Kajakwanderungen, Tanztheater, Kurzfilme, Mitte Juli wird die neue Strandpromenade eröffnet. Die Organisatoren bauen darauf, dass die Kreativität der Menschen und die Vielfalt der Veranstaltungen hilft, die Tallinner wieder mit dem Meer zu verbinden. „Dann hätten wir eines unserer Ziele erreicht“, sagt Maris Hellrand, Sprecherin der Stiftung Tallinn2011.

Ein anderes Ziel formuliert Paul Aguraiuja. Er steht vor dem Strohtheater und schaut auf den schwarzen Komplex. „Ich hoffe, dass die Stadt das Gelände des Strohtheaters auch am Ende dieses Kulturjahres auch weiterhin als Kulturtreffpunkt nutzt.“ Und dann ein bisschen nachdenklicher: „Es wäre schade, wenn dieser Ort wieder ein bedeutungsloser Platz im Herzen der Stadt wird.“

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