Künstlerin Elianna Renner über den Umgang mit der Nazizeit: „Die Schoah war bei uns zu Hause“

In der Familie von Elianna Renner war Deutschland eine No-go-Area. Bis sie nach Bremen zog, um zu studieren.

Findet, dass deutsche Familien mehr über ihre Geschichte reden sollten: Elianna Renner. Foto: privat

Ach übrigens, alle meine Freunde in Deutschland haben Nazis in der Familie. Na und?

Als ich vor ein paar Tagen gefragt wurde, ob ich mir vorstellen könne, einen Artikel über mein Verhältnis zu Deutschland als Tochter eines Schoah-Überlebenden zu schreiben, war mir von Anfang an bewusst, dass dieses Thema sehr delikat werden könnte.

Als Erstes fiel mir die Geschichte eines im Nachhinein kläglich gescheiterten Versuches ein. Ich wurde zu einem Seminar, eingeladen, bei dem Täterkindern, also den Töchtern und Söhnen oder Enkelinnen und Enkeln von Nationalsozialist*innen, die Möglichkeit gegeben wurde, über ihre Familienverhältnisse zu sprechen.

Da ich nicht die einzige Quoten-Jüdin vor Ort sein wollte, habe ich nach gefühlten zehn Stunden bestechender Argumentation einen ebenfalls jüdischen Freund überzeugen können, mich zu der Veranstaltung zu begleiten.

Nach drei Stunden des Verweilens im stummen Redekreis machte sich mein Freund klammheimlich aus dem Staub. Vor seinem „polnischen Abgang“ flüsterte er mir noch schnell ins Ohr, dass er dieses Szenario im Kopf nicht mehr aushalten könne. Ich bin aus Anstand noch weitere zwei Stunden sitzen geblieben. Seine Befürchtung, dass eine Zusammenkunft in solch einem Rahmen nur schief gehen konnte, hatte sich bestätigt. Wir waren die Alibi-Opfer und unseren Mitstreiter*innen war es offensichtlich einfach nur unangenehm, uns in ihrem Kreis dabei zu haben.

Stunden der Unbehaglichkeit

Was ich von den gemeinsamen Stunden der Unbehaglichkeit mitgenommen habe, war die Tatsache, dass diese Runde aus Einzelpersonen versuchte, zwar ihre privaten Familienstrukturen offenzulegen, aber während der ganzen Angelegenheit mit sich selbst am meisten zu kämpfen hatte.

Es wurde schnell klar, dass es bei ihnen zu Hause immer irgendwo einen Nazi gegeben hatte, ob Oma-Opa-Tante-Mutter-Onkel-Vater, egal, es wurde zu Hause prinzipiell nicht darüber gesprochen und die „Angelegenheit“ wurde im bürgerlichen Sinne pragmatisch abgehandelt.

Bei uns daheim war das anders.

Die Schoah war bei uns zu Hause. Wir sind mit ihr groß geworden.

Es wurde in aller Regel viel gesprochen, an Worten mangelte es uns nicht.

Mit den fehlenden Familienmitgliedern sind wir groß geworden. Zwar war mein Großvater väterlicherseits nicht mehr anwesend, trotzdem war er immer irgendwie da – in den Erzählungen der Überlebenden.

Auch wenn meine Oma darüber nicht ins Detail ging, trug sie spürbar ihr Leid stets mit sich herum und hat den Verlust und das Leiden bis zu ihrem Tod nie überwunden. Es prägte ihr Leben nach 1945.

Bis über beide Ohren verliebt, mit einem Kleinkind an der Hand und erneut schwanger, stand sie im Leben, bis ihr Ehemann abgeholt wurde. Nie wieder sollte sie etwas von ihm hören. Keine Nachricht erreichte sie, aber trotzdem wartete sie heimlich, still, leise und überlebte jeden Tag mit der verzweifelten, aber immer wieder neu belebten Hoffnung, ihn wiederzusehen, bis sie im hohen Alter an einem Tumor im Halse erstickte.

Ihre Eltern und andere Familienangehörige sind in Auschwitz und Ravensbrück vernichtet worden. Ein paar wenige haben überlebt.

Damit beschäftigt, zu überleben

Mein Vater, der als Kleinkind mit seiner Mutter und seinem Bruder durch den Kastzner-Transport in Bergen-Belsen gelandet ist, konnte auch nicht wirklich über seine Erlebnisse sprechen. Er war zu klein, um sich an seinen Vater zu erinnern und zu groß, um seine Kindheit erfolgreich zu verdrängen. Er war sein Leben lang damit beschäftigt zu überleben, seine Kindheit hinter sich zu lassen und Fuß zu fassen – im Leben danach. Es gelang ihm nur schwer. Im KZ Bergen-Belsen wurde er vier Jahre alt, er war nicht alt genug, um zu verstehen, was um ihn herum geschah.

Aber nach 1945 musste das Leben weitergehen und man musste zusehen, dass es weiterging. Während die einen wenige Jahre nach dem Krieg das sogenannte „Wirtschaftswunder“ feierten, versuchten die anderen, sich trotz ihrer Verluste ihr gesamtes Leben neu zu erarbeiten.

Nichtsdestotrotz war die Schoah immer präsent. Sie war der Grund, dass ich in der Schweiz geboren wurde, sie war schuld, dass sich meine Eltern kennenlernten, sie war schuld, dass sie sich wieder scheiden ließen, und schlussendlich ist sie auch Schuld daran, dass ich in Deutschland gelandet bin.

Jüdische Anti-Deutsche

Meine Familie bestand aus jüdischen Anti-Deutschen. Das ist nicht zu verwechseln mit den deutschen Anti-Deutschen der Post-Kohl-Ära. Es war vielmehr ein quasi natürlicher, biografischer Sachverhalt. Ich bin mit meiner Mutter, meinem Bruder und meinem Großvater mütterlicherseits aufgewachsen und keine*r von ihnen mochte die Deutschen. Meine Mutter hat allein und später mit uns Kindern die ganze Welt bereist, aber Deutschland war eine No-go-Area.

Als jedoch 1989 die Mauer fiel, war meine Mutter in allen ihr zu Verfügung stehenden Sprachen, es sind insgesamt sieben, den ganzen Tag lang mit Telefonieren beschäftigt.

Sie hatte die Ostdeutschen immer gelobt, weil diese immerhin Marx in der Schule lesen mussten. Ein Jude, wenn auch antisemitisch, trotzdem ein Jude. Mütterlicherseits hatten wir viele Sozialisten und Kommunisten in der Familie.

Nach der Wende revidierte sie wieder alles. Auch wenn die Ostdeutschen die besseren Deutschen waren, gab es keinen Grund, sie aus dem Käfig zu lassen, um sich als Groß-Deutschland wieder zu vereinen!

Nachdem ich in der Schweiz wirklich alles getan hatte, was man als Teenager tun konnte, um seine Eltern bestmöglich zu verärgern, zog ich in letzter Konsequenz nach Deutschland, dorthin, wo meiner Mutter – selbst in sieben Sprachen – keine Worte mehr dazu einfielen. Ich brachte sie in eine unangenehme Situation. Ihre Tochter, die Schulabbrecherin, um deren Zukunft man sich immer sorgen musste, sollte plötzlich und ausgerechnet in Deutschland Kunst studieren.

Die Ironie des Schicksals hatte Mama zum Duell gefordert. Die Deutschen wollten meinen Schulabschluss nicht anerkennen. Wutschnaubend flog meine Mutter nach Deutschland, um es mit dem Senator für Bildung aufzunehmen. Ein Behördenkrieg brach aus, aber natürlich setzte sich meine Mutter durch und zweifelsohne hatte sie recht. Wie immer. Sie besiegte die Deutschen.

Meine Geschichte mit dem Deutschland der Jahrtausendwende fing aber an einer ganz anderen Stelle an. Als Punkerin war es erst mal gar nicht so wichtig, jüdisch zu sein, auch nicht in Deutschland. Als es dann doch hier und da zur Sprache kam, war das jeweilige Gegenüber manchmal kurz irritiert, mehr aber auch nicht. Vielleicht, weil „Provokationen“ egal welcher Art und Weise in der Natur des Punks liegen mögen und jüdisch zu sein für viele „normale“ Menschen – noch immer – als Provokation gesehen wird.

Erziehung für Deutsche

In diesem Zusammenhang fällt mir ein Zitat von Gertrude Stein ein, die 1945 auf die Frage von General Osborne, was man denn tun könne, um die Deutschen zu erziehen, Folgendes schrieb:

„Ich sagte, man kann nur eins tun und das ist, ihnen Ungehorsam beizubringen, solange sie gehorsam sind, solange werden sie früher oder später von einem bösen Menschen herumkommandiert werden und es wird Probleme geben. Lehren Sie sie Ungehorsam, sagte ich, lassen Sie jedes deutsche Kind wissen, dass es seine Pflicht ist, wenigstens einmal am Tag eine gute Tat zu tun und etwas nicht zu glauben, was sein Vater oder sein Lehrer ihm erzählt. Stürzen Sie sie in Verwirrung, verwirren Sie sie und dann werden sie vielleicht ungehorsam sein und die Welt wird Frieden haben. Gehorsame Völker ziehen in den Krieg, ungehorsame mögen Frieden …“

Deswegen bin ich davon überzeugt, dass die Punkbewegung in Deutschland mehr für die Gesellschaft getan hat als diese es ihr anrechnen möchte. ;)

Mit meinen Mit-Studierenden machte ich andere Erfahrungen. Ich erinnere mich an akademische Vergleiche zwischen dem Vietnamkrieg und der Schoah. Sie empfanden es als höchst unangebracht, ständig auf die deutsche Geschichte reduziert zu werden, obwohl andere auch Schlimmes getan hätten.

Vor allem störten sie die deutschfeindlichen Diffamierungen und Beschuldigungen aus dem Ausland und sie fanden es gar nicht witzig, von ehemals besatzten Holländern nach ihren von den Deutschen enteigneten Fahrrädern ihrer Großeltern gefragt zu werden. Ich dachte immer, dass man schon im Sandkasten lernt, dass wenn man gewalttätig seiner Spielsachen enteignet wird, man sich diese auch wieder zurückholt. Der Spielsachenenteigner wird in seine Schranken gewiesen.

Mangel an Humor

Mich enttäuschte der Mangel an Humor und dass die eigene (Familien-)Geschichte mit einer großen Portion Arroganz, falschem Nationalstolz und vorgegaukelter Intellektualität zu kaschieren versucht wird. Meiner Erfahrung nach betrifft diese Haltung einen Großteil der deutschen Bevölkerung.

Meine Geschichte (und Karriere) in diesem Land begann mit einem Déjà-vu beim Trampen von Zürich nach Bremen auf der A27.

Ich war gerade damit beschäftigt, den Fahrer vollzuquasseln, (beim Trampen zahlt man ja bekanntlich mit hochgescheiten Diskussionen, um die gute Laune zu erhalten), als ich aus dem Fenster ein Ausfahrtschild erblickte: Gedenkstätte Bergen-Belsen. Was war ich geschockt.

Ich muss zu meiner Schande gestehen, dass ich bis dato nicht wusste, dass Bergen-Belsen nicht in Bayern lag. Mir wurde bewusst, dass genau hier an dieser Stelle mein Vater, mein Onkel und meine Großmutter im KZ inhaftiert waren.

Die Abschlussarbeit für mein Kunst-Diplom wurde eine Performance/Installation: „84,4“

84,4 Kilometer zum KZ

84,4 Kilometer, das war die Distanz von meiner Haustür in Bremen bis zur Pforte der Gedenkstätte Bergen-Belsen. Bei der Arbeit handelte sich um die Auseinandersetzung mit untereinander verstrickten Erinnerungssträngen, die von Zürich über Bergen-Belsen nach Bremen führten.

Bei diesem Gedanken wurde mir der Konflikt zwischen mir und den Deutschen erst richtig bewusst. Während viele meiner Familienmitglieder verfolgt, gedemütigt und vernichtet wurden, werden meine toten Familienangehörigen von meinem Gegenüber oft nur als übereinander gestapelte Leichenkörper in Schwarz-Weißen und verschwommenen Bildern wahrgenommen, Stellvertreter von Millionen toter Juden und Jüdinnen.

Die Geschichte der Überlebenden wird im Alltag gerne verdrängt, und ein schwer nachvollziehbarer Abstraktionsprozess findet statt. Während für uns eine emotionale Distanzierung fast unmöglich ist, hat es den Anschein, als wäre andersherum genau das Gegenteil der Fall: Es wird versucht, innerhalb von Familien, Generationen und anderen Gemeinschaften so viel Abstand wie möglich zur eigenen Vergangenheit herzustellen, um eventuellen Konflikten aus dem Weg zu gehen.

Ich glaube, wir würden uns alle prinzipiell etwas besser verstehen, wenn solche Ansätze und Befindlichkeiten zur Diskussion stehen würden und wenn im Alltag mehr Sensibilität zwischen den Nachkommen der Überlebenden und denen der Täter des Holocaust vorhanden wäre.

Und wenn nicht immer alles auf den Nahost-Konflikt reduziert werden würde, als billiges Ablenkungsmanöver, um sich nicht mit seiner Geschichte auseinandersetzen zu müssen … ja, dann wäre uns allen schon mal ein gutes Stück geholfen.

In Deutschland sind die ersten Juden im Jahre 321 in Köln über Frankreich und Italien eingereist. Die jüdische Geschichte hat auch die früheren germanischen Stämme und späteren Deutschen über alle Jahrhunderte hinweg geprägt und begleitet und ist ein fester Bestandteil der deutschen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.

Aber leider immer noch nicht ein fester Bestandteil des erinnerungskulturellen Gedächtnisses und gesellschaftlichen Bewusstseins.

Muttertag statt Tag der Befreiung

Dieses Jahr fiel der Muttertag auf den 8. Mai, den Tag der Befreiung vom Nationalsozialismus. Der Muttertag wiederum war während der NS-Zeit sehr populär. Heute jedoch schenkt man lieber der Mama Blumen, anstatt sich darüber zu freuen, dass Deutschland befreit wurde. Auch ist es mehr als befremdlich, dass ausgerechnet der 9. November, der Tag des Gedenkens an die Reichspogromnacht, in der im ganzen Land die Synagogen brannten und jüdische Menschen ermordet, festgenommen oder deportiert wurden, 51 Jahre später zum Schicksalstag der Deutschen umdefiniert wurde.

Ich lebe also in einem Land, in dem ich meinen Opferstatus nicht akzeptieren möchte, meine Geschichte nicht ausblenden kann und ich mich zusätzlich immer wieder genötigt fühle, meine Position zu verteidigen. Genauso widersprüchlich, wie sich das liest, ist es auch. Und natürlich ist dieser Artikel hochgradig subjektiv und beruht auf meinen Erfahrungen im Alltag, die natürlich nicht alle negativ sind. Die negativen Erfahrungen, Konflikte und nicht stattfindenden Debatten dienen aber der Veranschaulichung des Dilemmas.

Ich möchte denen danken, die sich weiterhin mit der Schoah und dem Antisemitismus auseinandersetzen und eine Wahnsinns-Arbeit leisten, die die Gedenkstätten aufgebaut haben und dazu beitragen, dass die Geschichte meiner Familie und aller anderen betroffenen Menschen nicht in Vergessenheit gerät. Mir ist bewusst, dass die ganze Aufarbeitung kein Zuckerschlecken ist und wir oft gegen Windmühlen kämpfen.

Ich kann mir auch vorstellen, dass es schwierig ist, seinen Opa zu hassen, für das, was auch immer er getan hat. Aber Opa unter den Teppich zu kehren und so zu tun, als wäre er nie da gewesen, bringt keinem etwas, er braucht nur einmal zu husten und schon könnte es jemand hören … Unter uns: Der aus dem hustenden Opa resultierende Stress ist am Ende des Tages anstrengender, als Opa eben nicht zu verheimlichen.

Meine Mutter hat gerade bei mir angerufen und meint, ich solle auch etwas Positives schreiben, weil ansonsten die Deutschen denken, dass ich, wenn es mir hier nicht passt, doch bitte gehen soll … Dazu kann ich nur sagen: Ich bin ein positiver Mensch und lebe gerne hier! Mit all den Reibereien, die dazugehören, auch dann, wenn sie nicht einfach sind. Ich wünsche, dass wir alle in einem Austausch bleiben oder in einen Austausch kommen, damit wir unsere Positionen neu definieren können. Die nachfolgenden Generationen brauchen uns mehr als wir denken: Den Dialog, die Kritik und die Debatte!

Prost und Lechaym!

Ach übrigens, alle meine Freunde in Deutschland haben Nazis in der Familie. Na und?

Ich liebe sie trotzdem.

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38, wurde in Zürich geboren und studierte an der Hochschule für Künste Bremen. Mit ihrem Projekt „Tracking the Traffic“ verfolgt sie den Frauenhandel im 19. Jahrhundert.

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