Kommunalwahlen in der Türkei: Ein Kampf unter Linken

Beim Wahlkampf im ostanatolischen Dersim treten ein Kommunist und eine Kurdin gegeneinander an. Von ihrer Konkurrenz könnte die kemalistische CHP profitieren.

Der Kommunist Fatih Mehmet Maçoǧlu will Bürgermeister der Provinzhauptstadt Dersim werden Foto: Ercan Topaç

Dursun Özgür lädt Lebensmittelsäcke von seinem großen alten Lastwagen ab, mit dem er über schneebedeckte Landstraßen gefahren ist. Dann reiht er die Säcke auf dem Gehweg vor sich auf und öffnet einen nach dem anderen. Der 62-Jährige ist Straßenhändler und verkauft im bergigen Landkreis Hozatin in der ostanatolischen Provinz Dersim Kichererbsen, Bohnen und andere regionale Produkte.

An der Hauswand hinter Özgür hängt ein Porträt des alevitischen Volksdichters Mahsuni Şerif. Darunter der Schriftzug: „Die Welt sollte nicht den Faulen und Ungerechten gehören, sondern den Fleißigen und Gerechten“. Özgür nimmt einen kleineren Sack mit Weizen in die Hand. Er hat es zuhause mit der Handmühle gemahlen, ein Geschenk für seine Kund*Innen.

Die Geschäfte liefen gut, sagt er und zeigt auf einen anderen Sack, der bis zum Rand mit Bohnen gefüllt ist. Seine Produkte kauft er direkt beim Produzenten in der 40 Kilometer entfernten Kreisstadt Ovacık. „Greifen sie zu, unser staatlicher Verkauf zu Discounterpreisen hat begonnen“, ruft er den Passant*innen zu, die Leute schauen ihn an und lachen über seinen Witz.

Staatlicher Gemüseverkauf

Özgürs Witz ist eine Anspielung auf die jüngsten Maßnahmen der Regierung. Die Inflation liegt in der Türkei derzeit bei etwa 20 Prozent, Zwiebeln, Auberginen und Tomaten sind kaum noch bezahlbar. Deshalb hat die AKP-Regierung in Istanbul und Ankara Verkaufsstände eingerichtet, an denen sie Obst und Gemüse zu staatlichen regulierten Discounterpreisen verkauft. Es ist eine Maßnahme zu einer Zeit, in der die Kommunalwahlen am 31. März immer näher rücken.

Dursun Özgür hat seinen eigenen Regulierungsverkaufsstand eröffnet Foto: Ercan Topaç

Trotzdem kritisieren Menschen in den langen Warteschlangen, dass sie an diesen Ständen maximal drei Kilo Obst oder Gemüse pro Person kaufen können. Bei Dursun Özgür gibt es eine solche Begrenzung nicht. Für den Straßenhändler ist die seit 17 Jahren regierende AKP schuld am wirtschaftlichen Einbruch in der Türkei.

Während diese wirtschaftliche Entwicklung in breiten Teilen der Bevölkerung zu Hoffnungslosigkeit geführt habe, sei in seiner Stadt eine Wende möglich, erzählt er. Grund für diesen vorsichtigen Optimismus ist der Landkreis Ovacık, in dem 6.000 Einwohner leben, und der dortige kommunistische Bürgermeister Fatih Mehmet Maçoǧlu. Maçoǧlu hat sich ein neues Ziel gesteckt: Er will bei den Kommunalwahlen am 31. März zum Bürgermeister der Provinzhauptstadt Dersim gewählt werden.

Nachdem er die letzten Kommunalwahlen im Jahr 2014 mit der TKP, der Kommunistischen Partei der Türkei, gewonnen hatte, setzte Maçoǧlu in Ovacık das Genossenschaftswesen um. Es wurde mehr als zuvor regional produziert. Auf Maçoǧlus Initiative wurden zunächst auf staatlichen Grundstücken, dann auch auf privaten Ländereien die in der Türkei allseits bekannten Ovacık-Bohnen angebaut.

Kein leichter, kein fairer Wettkampf

Dursun Özgür hat bei den vergangenen vier Wahlen jedes Mal für die prokurdische Partei HDP gestimmt. Die Partei hat in seiner Stadt regelmäßig die meisten Stimmen erhalten. Bei der bevorstehenden Wahl werde er seine Stimme jedoch dem Kandidaten der kommunistischen Partei, das heißt Fatih Mehmet Maçoǧlu geben, erzählt er. Was ihn zu dieser Wahlentscheidung bringt? Er sagt: die blühenden landwirtschaftlichen Genossenschaften in Ovacık. Gleichzeitig ärgert sich Özgür darüber, dass die HDP und Maçoǧlu nicht gemeinsame Sache machen.

Es ist kein leichter, kein fairer Wettkampf in einer Region, die unter ständiger militärischer Kontrolle steht. Nicht leicht, weil die HDP mit ihrem Programm zur kurdischen Frage die letzten beiden Kommunalwahlen in der Provinz gewonnen hat. Nicht fair, weil die AKP-Regierung die kurdisch-linke Partei HDP beschuldigt, die Terrororganisation PKK zu unterstützen. Anfang März sagte Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan HDP-Abgeordneten in Trabzon: „Für euch ist in diesem Land kein Platz.“

Die zuvor von der HDP geführte Kommunalverwaltung von Dersim steht seit November 2016 unter Zwangsverwaltung. Nicht nur Dersim, 96 der 102 Kommunen in der Region, die früher von der prokurdischen Partei regiert wurden, werden heute von der AKP-Regierung verwaltet. Dabei hat die AKP bei den vergangenen Kommunalwahlen lediglich 9 Prozent der Stimmen in Dersim erreicht. Die meisten Stimmen hat die HDP bekommen, nach ihr kommt die CHP. Dieses Detail ist nicht ganz irrelevant: Die kemalistische CHP könnte davon profitieren, dass bei den aktuell bevorstehenden Wahlen zwei linke Parteien miteinander konkurrieren.

Bürgermeister mit teuren Hemden

Maçoǧlu sitzt in einem kleinen Restaurant, wo sich Arbeiter*innen der umliegenden Betriebe zum Mittagessen treffen. Er trägt einen grünen Parka, dazu einen kurzen blauen Schal, den er sich fest um den Hals gebunden hat. Eigentlich möge er Polohemden, sagt er. Wenn man drei auf einmal kaufe, bekomme man sie auch günstiger. Da er aber fürchtet, die Leute könnten ihm vorhalten, ein kommunistischer Bürgermeister dürfe keine teuren Marken tragen, bewahre er sie zuhause auf, erzählt der 50-Jährige lachend.

Was würde er anders machen, wenn die Menschen ihn zum Bürgermeister der Provinzhauptstadt Dersim wählen würden? Maçoǧlu antwortet mit einer Problemanalyse, aber er präsentiert auch gleich eine Lösung. Wegen der Zwangsverwaltung sei die Stadtverwaltung von Dersim praktisch tot. Er wisse nicht, wie hoch die Stadt verschuldet sei. Die Schulden machten ihm aber keine Angst. „Wir werden einen Finanzberater hinzuziehen, der wird prüfen, in welchem Zustand die Kommune an unsere Kooperative, die Volksversammlung, übergeben wird. Dann hänge ich die Ergebnisse an der Rathaustür auf“, sagt er.

„Lasst uns Dersim zu einer Stadt machen, die ökologische Landwirtschaftskooperativen betreibt“ Foto: Ercan Topaç

In der urbanen Provinzhauptstadt Dersim wird es nicht möglich sein, eine Landwirtschaft wie in Ovacık zu betreiben. Deshalb plant Maçoǧlu, Landwirtschaft und Viehhaltung in den sieben Landkreisen von Dersim zu fördern, und in der Provinzhauptstadt die Verpackungsbetriebe für die hier produzierten Waren anzusiedeln. In Ovacık wurde nach seiner Wahl beschlossen, dass öffentliche Busse kostenlos sind und die Haushalte eine Trinkwasserversorgung für wenig Geld bekommen. Beides möchte Maçoǧlu auch für Dersim. Außerdem möchte der kommunistische Bürgermeister den „spirituellen Tourismus“, wie er es nennt, fördern.

Zur Erklärung fügt er hinzu: „Das hier ist ein Ort der kurdischen und alevitischen Traditionen. Wir wissen, dass es in Europa viele Menschen gibt, die vor Jahren von hier ausgewandert sind, deren Fußstapfen man hier noch erkennen kann und deren Herz hier geblieben ist – diese Menschen wollen hierher kommen, um ihre alte Heimat zu sehen und zu erleben.“

Tourismus und Militär

In Ovacık hat Maçoǧlu erlebt, wie viel Geld Tourismus einbringen kann. Das kleine Ovacık mit gerade einmal 6.000 Einwohnern wurde 2018 von 247.000 Tourist*innen besucht. 90 Prozent von ihnen haben laut Maçoǧlu Zeit im Rathaus verbracht – „politischer Tourismus“, sagt er. Auch der Naturtourismus sei eine Option, sagt Maçoǧlu. Dersim liegt am Rande des Munzur-Vadisi-Parks, des größten Nationalparks in der Türkei.

Dersim liegt am Munzur-Vadisi-Nationalpark Foto: Ercan Topaç

In die schwer zugänglichen Berge von Dersim hat sich die PKK zurückgezogen. Deshalb trifft der Staat in der Stadt zusätzliche Sicherheitsvorkehrungen, immer wieder werden Straßen für den Verkehr gesperrt. Die Anhöhen der Stadt, von denen man eine gute Aussicht hat, werden vom türkischen Militär als befestigte Wachposten genutzt. Noch immer gibt es militärische Kontrollpunkte an allen Zu- und Ausfahrten der Stadt, Soldaten patrouillieren im Stadtzentrum.

Die HDP hat in Dersim ein Wahlbündnis mit anderen sozialistischen Organisationen geschlossen. Die Union revolutionärer Kräfte (Devrimci Güç Birliǧi), wie sich das Bündnis nennt, tritt bei den Wahlen mit eigenen politischen Inhalten gegen Maçoǧlu an. Eine der Kandidat*innen der Union revolutionärer Kräfte in Dersim heißt Nurşat Yeşil. Ihr Ziel ist es, das der HDP aus den Händen gerissene Bürgermeisteramt zurückzuholen.

Mit einem Kandidaten, der sich der Werte der Kurd*innen angenommen hätte, wäre ein Bündnis möglich gewesen, sagt Yeşil im Dersimer Parteibüro der HDP über den kommunistischen Bürgermeister Maçoǧlu.

Die Wirtschaftskrise in Dersim

Die 46-Jährige hat 26 Jahre lang als Krankenschwester in staatlichen Krankenhäusern gearbeitet. 2016 wurde sie wegen eines richterlichen Beschlusses aus dem öffentlichen Dienst suspendiert. Die derzeit immer noch arbeitslose Kandidatin sagt, sie werde von der Bevölkerung nicht dafür kritisiert, dass sie kein Bündnis mit Maçoǧlu eingegangen ist. Vielmehr kritisierten die Menschen die Arbeitslosigkeit in Dersim.

Nurşat Yeşil will für die HDP das von der Regierung entzogene Bürgermeisteramt zurückholen Foto: Figen Güneş

Die Wirtschaftskrise ist in Dersim deutlich spürbar. Sie habe Schwierigkeiten, einen Job zu finden, sagt Gizem Yamaç in einem Teegarten mit Blick auf den Fluss Munzur, ein paar hundert Meter vom Parteibüro der HDP entfernt. Die 25-jährige wurde vor kurzem aus dem Gefängnis entlassen. Sie erzählt, dass sie aufgrund der Slogans, die sie auf einer Kundgebung zum 1. Mai gerufen habe, acht Monate im Gefängnis gewesen und nun auf Bewährung frei gelassen worden sei.

Das in Ovacık entwickelte und sich rasch im Landkreis verbreitende Kooperativwesen ist für sie ein Hoffnungsschimmer in der Region. Auch sie selbst habe in der Erntezeit immer mal wieder auf den Feldern gearbeitet. „Seit Jahren erleben wir in Dersim unterschiedliche Formen kommunaler Verwaltung, aber die jetzige Verwaltung von Ovacık ist etwas Besonderes.“

Ein Kommunist bei Fox TV

Yamaç erzählt von dem Fernsehauftritt Maçoǧlus bei Fox TV, einem der beliebtesten Fernsehsender des Landes: „Zum ersten Mal tritt ein kommunistischer Bürgermeister in den bürgerlichen Medien auf.“ Auch in den Teestuben rings um den Seyit-Rıza-Platz im Stadtzentrum wird über den Auftritt des kommunistischen Bürgermeisters bei Fox TV diskutiert.

Yusuf Kenan Aydın, der CHP-Kandidat in Dersim, ärgert sich über das im Fernsehen gelobte „Ovacık-Modell“. Er ist vorbeigekommen, um potenzielle Wähler*innen in der Teestube zu treffen und schimpft, Maçoǧlu sei nur deshalb so populär geworden, weil er als Kommunist gehandelt werde – aber allein mit dem Anbau von 650.000 Quadratmetern Ackerland könne man das System nicht ändern. Der HDP-Fraktionsvorsitzende Ayhan Bilgen sagte in einer Sendung des Fernsehsenders Yol TV, dass Maçoǧlus Kandidatur „manch einem wohl gelegen käme“, und kritisierte, „dass nicht jeder im Land sich so einfach als Kommunist bezeichnen könne“.

Daraufhin erklärte die TKP, die HDP sei verantwortlich dafür, dass kein Bündnis zustande gekommen sei. Die TKP behauptet, sie habe vorgeschlagen, ihren Kandidaten als HDP-Kandidaten aufzustellen oder durch eine Wahl einen gemeinsamen sozialistischen Kandidaten zu bestimmen. Die HDP habe diesen Vorschlag jedoch abgelehnt.

In Dersim stehen sich bei den Kommunalwahlen am 31. März deshalb zwei linke Wahlkämpfer gegenüber: auf der einen Seite die HDP, die die kollektiven Rechte der kurdischen Bevölkerung verteidigt, auf der anderen Seite die TKP, die mit ihrem Kooperativwesen den Alltag der Menschen direkt beeinflusst.

Aus dem Türkischen von Judith Braselmann-Aslantaş

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Das finden Sie gut? Bereits 5 Euro monatlich helfen, taz.de auch weiterhin frei zugänglich zu halten. Für alle.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.