Kommentar Vergewaltigungen in Indien: Die Mittelschicht ist nicht besser

Nirgendwo ist die Gewalt gegen Frauen in Indien größer als innerhalb und gegenüber den sozialen Unterschichten. Doch sie ist auch in den Mittelschichten verbreitet.

Tatsächlich demonstriert bisher vor allem eine intellektuelle Avantgarde aus dem Universitäts- und Aktivistenmilieu – Demo in Neu Delhi am 2. Januar. Bild: reuters

Der Wirtschaftsnobelpreisträger Amartya Sen ist einer der wenigen indischen Intellektuellen, die dem verführerischen Diskurs einer neuen Moderne Indiens nicht folgt. Doch hat er die Ewiggestrigen seines Landes nun gemahnt, Vergewaltigungsverbrechen nicht als Erfindung der modernen Gesellschaft hinzustellen. „Wer sagt, Vergewaltigungen gäbe es nur in Städten und nicht in Dörfern, vergisst all die Frauen der Unberührbaren-Kaste, die fortwährend vergewaltigt werden.“

Tatsächlich ist nirgendwo die gesellschaftlich geduldete Gewalt gegen Frauen in Indien größer als innerhalb und gegenüber den sozialen Unterschichten. Die Vergewaltigung des unberührbaren Dienstmädchens ist notorisch.

Doch darüber hat sich noch nie jemand aufgeregt. Hier, in der doppelten Unterwürfigkeit von Frau und niedrigem Kastenmitglied, ist die Wurzel für Indiens oftmals ungehemmte Männergewalt.

Trotzdem greift auch Sens Kritik zu kurz. Denn die Gewalt gegen Frauen hat gerade in der prosperierenden Mittelschicht, die jetzt von vielen etwas voreilig als Schoß der Proteste gefeiert wird, ihren neuen Nährboden gefunden. Tatsächlich demonstriert bisher vor allem eine intellektuelle Avantgarde aus dem Universitäts- und Aktivistenmilieu, nicht die gerade zu etwas Geld gekommene Arbeiter- oder Angestelltenfamilie.

In ihr aber setzt sich in Indien heute ein neues materielles Wertesystem durch, in dem der Sohn als Stammhalter immer noch weit oben rangiert, die Tochter aber oft erst auf Eigentumswohnung und Auto folgt. Also treibt man sie lieber ab. Das geschieht heute viel häufiger in den Städten als auf dem Dorf. Bis zu 85 Millionen Frauen sind nach Forschungsberichten auf diese Weise allein in Indien und China verschwunden. Ihr Fehlen wird die Gewalt gegen Frauen weiter ansteigen lassen.

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Georg Blume wurde 1963 in Hannover geboren und ist gelernter Zimmermann. Er leistete seinen Zivildienst in einem jüdischen Kinderheim sowie in einem Zentrum für Friedensforschung in Paris. Danach blieb Georg Blume in Frankreich und wurde Korrespondent der taz. 1989 wurde er Tokio-Korrespondent der taz, ab 1992 auch für die Wochenzeitung DIE ZEIT. Von 1997 bis 2009 lebte er in Peking, wo er ebenfalls als Auslandskorrespondent für die ZEIT und die taz schrieb, seit August 2009 ist er für die beiden Zeitungen Korrespondent in Neu-Delhi. Bekannt geworden ist Georg Blume vor allem durch seine Reportagen über Umweltskandale und Menschenrechtsverletzungen in China. Für dieses Engagement erhielt er 2007 den Liberty Award, mit dem im Ausland tätige Journalisten für ihre couragierten Berichterstattungen gewürdigt werden. 2012 wurde er mit dem Medienethik-Award META der Hochschule der Medien in Stuttgart ausgezeichnet. Publikationen: „Chinesische Reise“, Wagenbach, Berlin 1998. „Modell China“, Wagenbach, Berlin 2002. „China ist kein Reich des Bösen“, Körber, Hamburg 2008.

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