Kommentar Oettinger zur Defizit-Grenze: Gute und schlechte Sünder

Brüssel und Berlin nutzen die Finanzpolitik als Mittel, um rechte Regierungen zu stützen – linke destabilisieren sie derweil mit denselben Mitteln.

Günther Oettinger

Erstaunlich deutliche Worte: EU-Kommissar Günther Oettinger Foto: dpa

Wenn die EU im Juni vor einem Ausscheiden Großbritanniens bewahrt werden sollte, müsste sie sich auch bei Jeremy Corbyn bedanken. Der linke Labour-Chef hat sich Anfang des Jahres für einen Verbleib der Briten ausgesprochen und das Brexit-Lager so deutlich geschwächt. Aber auch wenn die EU noch nie so vom Zerfall bedroht war wie heute, eines vergessen Brüssel und Berlin nicht: die Pro-EU-Linke links der Sozialdemokratie als ihren Gegner zu betrachten und sie zu demütigen, solange sie etwas anderes als die deutsche Austeritätspolitik will.

Überraschend klar hat sich nun der deutsche EU-Kommissar Günther Oettinger im Spiegel geäußert: Spanien brauche eine handlungsfähige Regierung, sagt Oettinger, deshalb habe man zunächst keine Strafe wegen des Reißens der Defizitgrenze verhängt. Nach den Wahlen im Juni werde man sich die Zahlen erneut anschauen und Schlussfolgerungen ziehen.

Das heißt: Die EU hat dem konservativen Noch-Premier Mariano Rajoy ein Wahlkampfgeschenk gemacht. Wenn aber Podemos die Wahlen gewinnen sollte, wird die EU Strafen verhängen. So wie Merkel und Schäuble Syriza vor einem Jahr zur Kapitulation zwangen, soll dann eine spanische Linksregierung zum Kniefall gezwungen werden. Auch in Frankreich, in dem 2017 Wahlen anstehen, soll die Defizitgrenze durchgesetzt werden, kündigt Oettinger an.

Noch kann sich Brüssel auf die Pro-EU-Linke verlassen. Schon deshalb, weil ihr ein Rückfall in nationalistische Kleinstaaterei, wie es sich Europas Rechtspopulisten wünschen, zu Recht ein Graus ist. Dennoch: Wenn Brüssel und Berlin die Fiskalpolitik als Mittel nutzen, rechte Regierungen zu stützen und linke zu destabilisieren, wird sie sich Gedanken um Alternativen machen müssen. Europa, so hat es der Soziologe Wolfgang Streeck kürzlich geschrieben, wird gerade von seinen größten Anhängern zerstört: den Deutschen. Im Herbst könnte in Spanien das nächste Kapitel folgen.

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Von 2018 bis 2020 taz-Parlamentskorrespondent. Zuvor von 2013 bis 2018 Leiter der taz-Inlandsredaktion, von 2012 bis 2013 Redakteur im Meinungsressort. Studierte Politikwissenschaft in Berlin, danach Arbeit als freier Journalist für Zeitungen, Fachzeitschriften und Runkfunkanstalten, Pressesprecher eines Unternehmensverbands der Solarindustrie und Redakteur der Blätter für deutsche und internationale Politik.

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