Kommentar Leichtathletik-Weltrekorde: Eine Enteignung der Sportler

Der Leichtathletikverband will alte Weltrekorde annullieren, um neue einzuführen. Was ist das nur für eine irrsinnige Idee!

Läuferinnen bei einem Rennen

Zum Glück keinen Weltrekord gelaufen: Hallen-Leichtathletik-Rennen in Birmingham Foto: dpa

„Revolutionär“, „scharfer Schnitt“: Was der euro­päische Leichtathletikverband fordert, findet erstaunlich viel Lob. Dabei geht es um etwas Destruktives: die Annullierung eines Großteil der Weltrekorde.

So stellen sich die europäischen Funktionäre das vor: Die Voraussetzungen dafür, dass ein Rekord ein Rekord ist, sollen auch rückwirkend gelten, etwa der Nachweis, sehr oft kontrolliert worden zu sein, oder eine 10-jährige Aufbewahrungsfrist der Proben.

Muss man sich einen Weltrekord künftig vorstellen wie einen Steuerbescheid? Unterlagen aufheben? Revisionsurteile einkalkulieren? Beruhigend ist allenfalls, dass sich für die neuen, also dann: „richtigen“ Weltrekorde niemand interessieren wird; schließlich gibt es doch so etwas wie ein Weltgedächtnis. Wir wissen doch, dass Usuain Bolt 9,58 Sekunden über 100 Meter gelaufen ist. Die Welt hat es doch gesehen.

Ein Weltrekord reklamiert für sich, die beste Leistung zu sein, die ein Mensch bis dahin je geschafft hat. Das ist die Aura, die den Rekord für Sportler und Pu­blikum so wertvoll macht. Selbstverständlich muss diese Leistung regulär zustande gekommen sein. Messbarkei in Zentimetern, Gramm oder Sekunden ist eine Voraussetzung, die Gleichheit der Bedingungen auch. Der Sport ist eben ein Produkt der bürgerlichen Gesellschaft; erst seit weltweit gemessen wird, gibt es Weltrekorde.

In Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen wird gewählt. Robert Habeck (Grüne) und Christian Lindner (FDP) sind die Hoffnungsträger ihrer Parteien. Wer kann liberale Wähler überzeugen? In der taz.am wochenende vom 6./7. Mai beschäftigen wir uns mit einem neuen Liberalismus. Außerdem: Männer, die ältere Partnerinnen haben. Wie liebt es sich mit dem Tabu? Und: Patricia Purtschert ist Gender- und Kolonialismusforscherin. Warum sie ihrer Tochter trotzdem Pippi Langstrumpf vorliest. Am Kiosk, eKiosk oder im praktischen Wochenendabo.

Aber überprüfbar dopingfrei muss er doch auch sein, rufen nun die Befürworter der „Revolution“. Als könne man den Nachweis erbringen, nicht manipuliert zu haben! Ja, als könne es das, was da gefordert wird, überhaupt geben: eine Leistung, erbracht von reinen, natürlichen Menschenkörpern.

Neuanfang abgelehnt

Etliche Athleten wehren sich gegen die geplante Regeländerung. Mike Powell, der 1991 mit 8,95 Meter den (noch!) gültigen Weltrekord im Männerweitsprung hält, spricht von Respektlosigkeit. Wie sollte einer wie er heute noch nachweisen können, dass vor 26 Jahren alles richtig war – und zwar gemäß dem, was heute verboten und erlaubt ist?

Die Leichtathletik hatte Ende der neunziger Jahre die Chance, einen würdigen Neuanfang hinzukriegen. Damals lag der Vorschlag von „Jahrhundertrekorden“ auf dem Tisch: Was bislang die Weltbestleistung war, wäre als „Rekord des 20. Jahrhunderts“ festgeschrieben worden. Doch der Vorschlag, von dem Sportsoziologen und damaligen Präsidenten des Deutschen Leichtathletikverbandes, Helmut Digel, vorgetragen, wurde abgelehnt – weil er angeblich eine Annullierung bedeutet hätte.

Die Idee aus den Neunzigern von „Rekorden des 20. Jahrhunderts“ wäre keine Aberkennung

Das war er in Digels Intention gerade nicht. Er wäre eben keine Aberkennung der Rekorde gewesen, sondern vielmehr die Akzeptanz, dass das Sportverständnis sich wandelt. Athleten wie der finnische Wunderläufer der zwanziger Jahre, Paavo Nurmi, oder der Star von 1936, Jesse Owens, hätten heute keine Chance mehr – weil sie sich nicht so kontrollieren ließen.

Etliche Athleten wehren sich derzeit gegen das immer rigider werdende Kontrollregime: 24/7-Überprüfbarkeit, Urinieren vor fremden Kontrolleuren, sogar die Implantierung von Chips unter der Haut wird diskutiert. Gerade in einer Zeit, wo es wichtig ist, die Rechte der Athleten zu stärken, kommt der Verband mit dem Versuch um die Ecke, Sportlern ihre Rekorde zu enteignen.

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Jahrgang 1964, Mitarbeiter des taz-Sports schon seit 1989, beschäftigt sich vor allem mit Fußball, Boxen, Sportpolitik, -soziologie und -geschichte

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