Kolumne Teilnehmende Beobachtung: Die Freiheit der Grenzkaninchen

In mancherlei Hinsicht sind Tiere fortschrittlicher als Menschen. Was Grenzen angeht, zum Beispiel, lassen sie sich nicht irritieren

Kaninchen sind in mancherlei Hinsicht freier als Menschen. Sie chillen auch mehr Foto: dpa

Als Berlin noch eine geteilte Stadt war, war ich ein Kind, das am Ostseestrand vor weitem Horizont spielte. Dort gab es keine Mauer. Die Seegrenze der DDR war imaginär und existierte nicht vor meinen Kinderaugen.

Ein- oder zweimal fuhr mein Vater damals unseren Trabi Kombi, grau-weiße Pappe mit braunem Dach, über die ruckelige Autobahn in die Hauptstadt der DDR. Erinnere ich mich an Ostberlin, fallen mir die Wassertreter-Schwäne im Plänterwald ein und Hochhäuser, in einem übernachteten wir. Im Konsum an der Ecke gab es Vanilleeis am Stiel und Schokoladenmilch aus dreieckigen Tetrapack-Tüten, die ich in den Holzregalen unseres Konsums zu Hause im Norden nie gesehen hatte.

Eine Erfahrung aber, die ich damals nicht machen konnte, sammelte ich vor ein paar Tagen in Nikosia, der geteilten Inselhauptstadt auf Zypern. Seit der Zypernkrise im Jahr 1974, als türkische Soldaten zum Schutz der dort ansässigen türkischen Bevölkerung den Nordteil der Insel besetzten, ist die Insel geteilt. Der griechische Süden bildet die von den Vereinten Nationen anerkannte Republik Zypern, der Norden die nur von der Türkei anerkannte Türkische Republik Nordzypern.

Mit dem deutschen Pass über die Grenze: kein Problem

Unseren Urlaub beeinflusste die politische Teilung der Stadt insofern, als unsere ausgedehnten Spaziergänge durch Nikosias Altstadt immer wieder an der Green Line, der von den UN eingerichteten Pufferzone mit Barrikaden, Stacheldrahtzäunen und Verbotsschildern, endeten. Anders als es meinen Eltern damals erlaubt gewesen wäre, überquerten wir die Ledra Street, den Grenzübergang für Fußgänger, jedoch täglich. Mit unserem deutschen Reisepass: kein Problem. Unangenehm war die Atmosphäre am Checkpoint trotzdem.

Die uniformierten GrenzerInnen an den türkischen und griechischen Grenzposten der nur 50 Meter breiten Pufferzone prüften unsere Pässe mit einer Mischung aus gekonnter Ignoranz und einer Genauigkeit, die einen Generalverdacht ausdrückte.

Sehr viel freundlicher waren sie zu den Katzen. Während wir in der Schlange warteten, schnurrten die grauen, schwarzen und weiß-braun getigerten ihnen um die Beine. Einige Kater schliefen genüsslich im Schatten großer Verbotstafeln, andere stiefelten schnurstracks über die Green Line.

So mutig waren die Mauerhasen in Berlin damals nicht. Im Gegenteil: Weil sie von Natur aus ängstlich waren, war das mehr als 160 Kilometer lange, streng bewachte Niemandsland zwischen Ost- und Westberliner Mauer für die Wildkaninchen ein ideales Zuhause. Hier konnten sie ungestört auf den Graswiesen fressen, unterirdische Stollen, manche 500 Meter lang und bis zu 4 Meter tief, graben.

Auf viele wirkten die Hasen ermutigend

Die Panzerspeeren boten gute Versteck- und Sonnenschutzmöglichkeiten, und die Grenzsoldaten, die die Kaninchen nicht jagen durften, waren friedlich. Die Berliner Mauerhasen vermehrten sich rasend schnell, bald schon saßen sie zu Hunderten auf der Grenzwiese.

Auf viele Ost- und Westberliner wirkten die eigenwilligen Grenzkaninchen im Todesstreifen ermutigend. Der Mauerhase wurde zum Symbol, zur Kunst. In Ostberlin war das alternative Kinderfest um den Künstler Manfred Butzmann, der unter der Hasenfahne die Flaggenmanie der DDR persiflierte, ein Symbol für Befreiung. Auf der Westberliner Seite widmete der französische Maler Thierry Noir den Kaninchen 1985 ein großes Mauerbild – als Hommage an ihren Mut und ihre Schläue.

Denn die Tiere leben es vor: Sie kennen keine Mauern. In ihrem Bewusstsein existieren keine territorialen, ideologischen, kulturellen oder ethnischen Grenzen. Vielmehr beanspruchen sie die Freiheiten, die sie zum Leben brauchen. Das ist wahrhaftig aufgeklärt.

Zwischen der nord- und südkoreanischen Grenze, die zeitweise mit Propaganda aus Lautsprechern beschallt wird, lebt übrigens der Fischotter. Er hat ein ausgezeichnetes Gehör und wundert sich.

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Jahrgang 1980. Seit August 2014 in der taz. Leitet zusammen mit Klaus Hillenbrand das Ressort taz.eins, das die ersten fünf Seiten der Tageszeitung verantwortet. War vorher als Autorin für verschiedene Tageszeitungen und Magazine tätig, entwickelte Konzepte für diverse Publikationen und war Chefredakteurin des unabhängigen Magazins für Alltagskultur "Der Wedding". Schreibt gern über Ostdeutschland, Postkolonialismus und Alltagskultur. Aufgewachsen auf der Insel Rügen.

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