Kolumne Rollt bei mir: Experten in meiner Sache

Mir war es lange herzlich egal, dass ich meine Füße nicht bewegen konnte. Leider ging es allen um mich herum anders.

Ein Klinikschild, auf dem Ein Arzt einer Mutter ihr Baby gibt

„So, so. Wir nehmen das mal besser mit.“ Foto: dpa

Bei meiner Geburt war ich ein VIP. Wie es sich für eine Very Important Person gehört, löste mein Auftritt hektische Betriebsamkeit aus. Plötzlich scharten sich viele Ärzte um meine Mutter und mich. Sie witterten einen medizinisch interessanten Fall.Meine Mutter war vermutlich ebenso verwirrt, wie ich. Sie hatte während der Schwangerschaft nicht geahnt, dass ich mit nicht voll funktionstüchtigen Füßen auf die Welt kommen würde. Ich dachte: „Das wird schon werden“.

Nach der Geburt durfte sie mich dann noch nicht mal in den Arm nehmen. Sie durfte nur mein Köpfchen sehen, der Rest war nicht so vorzeigbar. In den kalten OP-Saal wollte ich nicht. Aber ich wurde nicht gefragt. Nottaufe (so viel zu Religionsfreiheit), Narkose, Zack, auf Wiedersehen.

Drei Monate verbrachte ich auf der Frühchenstation. Bloß: Ich war kein Frühchen, sondern das dickste und größte Baby der Station. Dass ich irgendwo hin gesteckt wurde, wo ich eigentlich nicht reinpasse, sollte in meinem Leben noch häufiger geschehen. Mir war herzlich egal, dass ich meine Füße nicht bewegen konnte. Aber allen um mich herum nicht.

Alpha-Kämpfer

Meine Eltern waren die Alpha-Kämpfer und wollten meine Beine in Bewegung bringen, koste es was es wolle. Die Prognose lautete: Das Kind wird nie laufen können. Das wollten sie nicht hinnehmen. Stattdessen hinterfragten sie alles, was die Ärzte feststellen. Einige Male zu Recht.

Sie bestanden auf Untersuchungen, auch noch kurz vor den OPs. So verhinderten sie, dass ich ein hässliches Ventil in meinen Kopf gepflanzt bekam, welches das Hirnwasser regulieren sollte. Mein Wasser regulierte sich ganz von selbst. Das war so nicht vorgesehen, deshalb hätten es die Ärzte beinahe übersehen.

Bevor sie sich die mühsame Arbeit der zahlreichen Untersuchungen machten, hatten sie allerdings noch eine andere Idee. Man könne, wenn man das denn wolle, so einen kleinen, noch nicht operierten Wurm einfach seinem Schicksal überlassen. Dann würde er eine Infektion bekommen und sterben. Dann wäre alles vorbei.

Ich will das nicht persönlich nehmen. Wahrscheinlich hatten die Ärzte einfach zu viele Kinder bei den Folgeuntersuchungen gesehen, die verwahrlost, oder von ihren Eltern nicht angenommen wurden. Meine Eltern wollen von all dem nichts wissen und entschieden sich für mich, und für das Training. Bestimmt haben sie sich damals schon auf diese Kolumne gefreut.

Gemeinsam reisten wir quer durch Norddeutschland zu dem einen oder anderen Experten.

Mundgeruch

Sie begannen ein medizinisches und physiotherapeutisches Selbststudium. Sie wurden Experten in meiner Sache und holten vor allen Entscheidungen Zweit- und Drittmeinungen ein. Gemeinsam reisten wir quer durch Norddeutschland zu dem einen oder anderen Experten.

So habe ich schon früh ziemlich viele Menschen in weißen Kitteln kennengelernt, vorwiegend ältere, einige mit krächzender Stimme, einige mit üblem Mundgeruch. Alle wollten etwas von mir, alle fassten mich an und sagten: „So, so.“ Das war anstrengend, ich wollte doch einfach nur ein Baby sein.

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