Kolumne Nullen und Einsen: Besuch in Digitalistan

Dass das Digitalland weit weg ist, erkennt man daran, dass es immer heißt, Deutschland sei „auf dem Weg“ dorthin. Eine Zeitreise.

Menschen sitzen in einer Gruppe mit Laptops

„Wir tun so als würden wir arbeiten, trinken aber den ganzen Tag nur Kokoswasser und lassen Buzzwords droppen“ Foto: dpa

Ein „starkes Digitalland“ will Deutschland werden, so steht es im Koalitionsvertrag von Union und SPD. Immer wenn es um Digitalisierung geht, spricht man hier gleich von Digitalistan. Das ist der ferne Ort, an den sich die Deutschen hinwünschen, wo die Menschen in papierlosen Büros arbeiten und Flugtaxis fliegen. Dass das Digitalland weit weg ist, erkennt man daran, dass es immer heißt, Deutschland sei „auf dem Weg“ dorthin.

Heute wagen wir die Reise und beamen uns ins Coworking-Space von Matze: „Willkommen“, begrüßt uns der 25-Jährige in seiner abgerockten Altbauwohnung in Digitalistan-Mitte. „Ich bin eines der Member dieses Mindhubs. Wir leben hier alle gleichberechtigt, es geht uns um den Communityaspekt. Wir arbeiten hier auch, aber das steht nicht im Vordergrund. Einmal die Woche treffen wir uns zum Putzplan-Pitch.“

„Ihr seid also einfach“, unterbrechen wir ihn, „eine Wohngemeinschaft?“ Der freie Krypto-Influencer winkt ab. „Nein, wir sind ein Mindhub, ich bin hier eines der Member. Wir leben hier alle gleichberechtigt …“ Matze rattert seine Vorstellung erneut herunter.

Wir schauen uns im Wohnzimmer um. Die vier Laptops auf dem Wohnzimmertisch sind alle verwaist. Ist wohl gerade Cybermittagspause. In Digitalistan ist alles cyber, was irgendwie mit Computeraktivität zu tun hat. Die Cyber-Kriminalität, den Cyber-Krieg und den Cyber-Sex kennt man ja schon aus Erzählungen. Doch über Cyber-Exceltabellen oder eine Cyber-WLANstörung hatte bislang noch niemand berichtet.

Sitzen für 32 Cent/Minute

Wir nehmen Matze diskret beiseite: „Geht in dieser neuen digitalen Arbeitswelt nicht total der menschliche Kontakt verloren?“ „Nein gar nicht“, flüstert Matze. „Eigentlich tun wir als würden wir arbeiten, trinken aber eigentlich den ganzen Tag nur Kaffee und Kokoswasser und lassen immer mal wieder Buzzwords wie Mobile First und Blockchain droppen. Dann verachten wir noch ein bisschen alle anderen, die sich so ein selbstausbeuterisches Egoleben nicht leisten können. Bis endlich Feierabend ist und wir das gleiche machen, nur den Kaffee durch Craftbeer ersetzen.“

Erschöpft von den Eindrücken lassen wir uns in einen Sessel fallen. Er kostet 32 Cent/Minute. Wie alles andere in Digitalistan muss man selbst den Sitzplatz mieten. Wir bedanken uns bei Matze und treten raus auf die Straße. Die Häuser mit Tech-Werbung vollprojiziert. Ansonsten ist es erstaunlich ruhig. Wir sprechen eine SmartRadfahrerin an: „Wo finden wir denn eine Rufsäule für Flugtaxis?“ Die Frau schnieft vor Lachen. „Flugtaxis gibt es nicht mehr, denn der motorisierte Individualverkehr wurde wegen mangelnder Effizienz abgeschafft.“

Stattdessen setzt der ÖPNV auf Fahrradbusse. Das sind restaurierte Bierbikes. „Die sind gut für die Umwelt und für den Körper. Während der Fahrt arbeitet man am Laptop oder betreibt digital detox und networkt mit den Mitfahrer*innen“. Die digitale Revolution haben wir uns irgendwie anders vorgestellt.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

im Produktentwicklungsteam der taz im Netz. taz seit 2012.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.