Kolumne Mittelalter: Vom Leben. Und vom Sterbenlassen

Wenn das Mittelalter nicht kommt, dann geht eben diese Kolumne. Diskrepanzerfahrungen pflasterten ihren Weg. Bleibt das jetzt so?

Moderne Menschen in mittelalterlichem Wannenbad

Entspannung in einem mittelalterlichen Badehaus, in dem niemand ertrinkt Foto: snapshot-photography/Tobias Seeliger

Dass eine Kolumne mit dem Namen „Mittelalter“ ebendann ausläuft, wenn dieses Mittelalter sich in Gestalt eines Bundesinnenministers oder einer Zeit-Journalistin personifiziert – dieser Gag wäre nicht nur billig, sondern auch sachlich fragwürdig. Man täte dem Mittelalter Unrecht: Damals wussten die Leute es nicht besser.

Auf diese Art göttlicher Ignoranz können sich die heutigen Eliten nicht rausreden; und die Avanciertesten unter ihnen tun es auch nicht. In einem „Survival of the Richest“ betitelten Artikel hat der US-Autor Douglas Rushkoff einen Besuch bei diesen Superreichen geschildert. Die sind nicht mehr an Lösungen interessiert, sondern sie fragen den Zukunftsforscher nach den besten Methoden, die Festungen, in die sich im Fall der Apokalypse zurückzuziehen gedenken, pöbelsicher zu machen.

Bewährt hat sich das Konzept Mittelalter schon eher als Beschreibung des eigenen Lebensabschnitts, zwischen auf bezaubernd-befreiende Art erwachsen werdenden Kindern und auf rührend-widerborstige Art alt gewordenen Eltern. Man trifft auf Jüngere, denen das alles sehr fern steht; und auf Ältere, die – sich durch ebenjene vollendete Erfahrung deutlicher als durch den reinen Altersunterschied absetzend – mit melancholischer Erleichterung zurückschauen.

Dieses Eingebundensein des mittelalten Menschen bewirkt, dass man sich merkwürdig ‚natürlich‘ fühlt, in den Kreislauf eines doch in Wirklichkeit am Individuellen uninteressierten Schicksals eingebettet, das jederzeit die Richtung wechseln, brutal zuschlagen kann. Ist der mittelalte Mensch berechtigterweise dankbar oder nur dumm selbstzufrieden? Und wie könnte man das sein, in dieser wirklich wahnsinnigen Welt?

„Alle wohlgemeinten Versuche der Philosophie, das, was die moralische Welt fordert, mit dem, was sie wirklich leistet, in Übereinstimmung zu bringen, werden durch die Erfahrung widerlegt.“ Sagt Schiller, und der Autor, der ihn so zitiert, spricht von einer „Diskrepanzerfahrung“.

Und was sagt Schiller?

Schiller und die ganze deutsche Ideologie geben auf diese Erfahrung eine bildungsindividualistische, protoexistenzialistische Antwort: Wen rettet man, wenn man es nicht mal – nicht erst mal – schafft, sich selbst zu retten? Die klassischen Franzosen folgen dagegen freiheitstheoretisch-egalitären Perspektiven: Wer keine Flüchtlinge im Mittelmeer rettet, versäumt nicht nur das – er verdammt auch sich selbst.

Und während man für sich selbst immer die erste Option als quasi alternativlos empfunden hat, wünscht man sich gerade bei vielen Landsleuten – auch im europäischen Sinne –, sie mögen doch endlich die zweite sich zu eigen machen.

Diskrepanzerfahrungen eben! Fortsetzung folgt – an anderer Stelle.

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Geboren 1968 in München, seit 2008 Redakteur der taz. Er arbeitet im Ressort taz2: Gesellschaft&Medien und schreibt insbesondere über Italien, Bayern, Antike, Organisierte Kriminalität und Schöne Literatur.

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