Kolumne Macht: Europa, deine Schande

„Illegale Flüchtlinge“ im „sicheren Drittstaat“ Türkei. Das ist menschenverachtend. Die Genfer Flüchtlingskonvention? Makulatur.

Flüchtlinge, im Vordergrund ein Kind

„Illegaler Flüchtling“, hier in Idomeni. Foto: dpa

Keine Chefredaktion zieht ohne Not ihre Korrespondenten aus einem der wichtigsten Berichtsgebiete der Welt ab. Wenn Spiegel und Welt genau das in der Türkei jetzt getan haben, dann muss die Gefahrenlage für die beiden Kollegen als sehr hoch eingeschätzt worden sein. Überrascht das jemanden? Das kann niemanden überraschen.

Schließlich ist bekannt, dass regierungskritischen türkischen Journalisten wegen angeblicher „Spionage“ lebenslange Haft droht und dass oppositionelle Medien auf Linie gebracht werden. Wo die Reise hingehen soll, hat der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan sehr deutlich gemacht. Er möchte den Terrorismusbegriff im Strafrecht ausweiten, um Intellektuelle leichter verfolgen lassen zu können.

Wörtlich erklärte er: „Zwischen Terroristen, die Waffen und Bomben tragen, und jenen, die ihre Position, ihren Stift oder ihren Titel den Terroristen zur Verfügung stellen, besteht kein Unterschied.“ Das Zitat muss man dreimal lesen. Und dann hält man es immer noch nicht für möglich. Ach ja, Krieg führt die Türkei übrigens auch. Im Südosten gegen kurdische Rebellen.

Das sind die Verhältnisse in dem Land, in das Europa - dem seine Werte, besonders die Menschenrechte, bekanntlich heilig sind - Kriegsflüchtlinge festhalten oder gar zurückbringen möchte. Die Türkei gilt als „sicherer Drittstaat“, und die Genfer Flüchtlingskonvention ist Makulatur. „Illegale Flüchtlinge“ werden die Männer, Frauen und Kinder jetzt genannt, denen es gelungen ist, sich auf griechische Inseln durchzuschlagen. Eine Bezeichnung, die an Menschenverachtung wirklich kaum zu überbieten ist.

Politiker fordern Schweinefleischpflicht in Kantinen, anderswo werden Schweineköpfe abgelegt – als Drohung gegen Muslime. Wie die Sau zum Wappentier des Abendlandes wurde, lesen Sie in der taz.am wochenende vom 19./20. März. Außerdem: Will man als Grüner von einem Porsche-Cayenne-Fahrer gewählt werden? Winfried Kretschmann sagt ja. Eine Analyse seines Erfolgs eine Woche nach der Wahl. Und: Sie gab Pippi Langstrumpf ihren Namen – ein Gespräch mit Karin Nyman, der Tochter Astrid Lindgrens. Am Kiosk, eKiosk oder im praktischen Wochenendabo.

Eine „Schande für Europa“ nennt die Menschenrechtsorganisation „Pro Asyl“ das, worauf sich die Teilnehmer des EU-Gipfels in Brüssel geeinigt haben, eine „moralische und rechtliche Bankrotterklärung.“ Da sei „eine Kehrtwende in der Geschichte der Europäischen Union.“ Dem ist nichts hinzuzufügen.

Nein, mir fällt auch keine einfache, konfliktfreie Lösung des Problems ein, dass Millionen hilfesuchender Menschen nach Europa wollen. So zu tun, als sei das keine riesige Belastungsprobe, ist verlogen und vergrößert die Schwierigkeiten nur. Aber üblicherweise gilt die Tatsache, dass sich jemand in einer mißlichen Lage befindet, nicht als hinreichende Rechtfertigung für Vertragsbruch und Verstöße gegen geltendes Recht.

Europas Phantasielosigkeit

Ein Angeklagter, der vor Gericht erklärt, ihm sei - leider, leider - nichts anderes eingefallen als der Griff in die Kasse zur Lösung seiner persönlichen Finanzkrise, wird mit dieser Entschuldigung kaum auf einen Freispruch hoffen können. Phantasielosigkeit schützt vor Strafe nicht. Das gilt jedenfalls für Individuen. Regierungen müssen nur selten fürchten, vor Gericht gestellt zu werden - jedenfalls nicht, so lange ihre Staaten politisch, strategisch und wirtschaftlich mächtig sind.

Das ist schade. Denn so, wie Einzelne meist noch aus der schwierigsten Lage einen Ausweg finden, wenn sie nicht ins Gefängnis wollen, so kann man davon ausgehen, dass auch die Regierungen der Europäischen Union mit vereinter Kraft eine moralisch und rechtlich akzeptable Lösung gefunden hätten. Wenn sie sich gezwungen gesehen hätten, das zu tun.

Das war nicht der Fall. Wer eine Politik der Abschottung verfolgt, dessen Popularität steigt bei Wählerinnen und Wählern. Den Preis dafür zahlen die Flüchtlinge. Und das Urteil der Geschichte liegt ja noch in weiter Ferne.

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Jahrgang 1956, ist politische Korrespondentin der taz. Von 1996 bis 1999 leitete sie das Parlamentsbüro der Zeitung, vorher war sie sechs Jahre lang deren Korrespondentin für Ost-und Zentralafrika mit Sitz in Nairobi. Bettina Gaus hat mehrere Bücher veröffentlicht, zuletzt 2011 „Der unterschätzte Kontinent – Reise zur Mittelschicht Afrikas“ (Eichborn).

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