Kolumne Lügenleser: Die Vergangenheit ist nicht bewältigt

Deutschland sieht keinen Grund, der Bevölkerung am „Tag der Befreiung“ die Arbeit zu ersparen. Woanders wird der Müßiggang zelebriert.

Menschen halten ein Transparent "No Tears for Krauts - Deutsche Täter_innen sind keine Opfer"

Linke protestieren am „Tag der Befreiung“ gegen Geschichtsrevisionismus Foto: dpa

Es könnte so schön sein. Gesperrte Straßen, fröhliche Mädchen mit bunten Bändern in den Haaren, angetrunkene Jünglinge in Feierlaune, Kinder mit Süßigkeiten, ein paar Senioren auf der Parkbank, ein tollwütiger Hund, der durch die Straßen getreten wird. Dinge, die man im Freudentaumel eben so macht. Der Wecker reißt mich jäh aus meinen verklärten Träumen. Es ist Montag, der 8. Mai. Tag der Befreiung vom Faschismus. Aber nicht nur das Wetter spielt nicht mit.

Auch die Bundesrepublik Deutschland sieht keinen Grund, der Bevölkerung an diesem Feiertag die Arbeit zu ersparen. Dabei sind Montage doch auch schon ohne Kriegsschuld und beleidigte Rentner (Hallo, Dresden!) äußerst unbeliebt. Wobei man festhalten muss: Es sind nicht die Montage, die euch ankotzen, sondern euer Job. Kommt damit klar oder ändert was.

In Frankreich sieht das anders aus, logisch. Da wird gefeiert, Paraden, Trommelwirbel, das gute Besteck. Auch in Tschechien und der Slowakei ist der Freudentag gesetzlich geregelte Freizeit. Aber wer verliert, bekommt keine Belohnung. Der zweite Platz ist der erste Verlierer, das wissen die Deutschen spätestens seit Stalingrad. Und für Stalingrad gab es ja nicht mal eine blecherne Medaille für die Teilnahme, so wie bei den Bundesjugendspielen.

Niemand klopft uns auf die Schulter und murmelt: „Immerhin habt ihr es versucht.“ Und deshalb wird am 8. Mai gefälligst nicht blaugemacht, wir haben eine Menge aufzuholen, ab ans Förderband, die Trümmerfrauen haben schließlich auch nicht gerastet. Denn wer rastet, rostet, richtig?

Keine Straßenfeste am „Tag der Befreiung“

Auch in anderen Ländern wird der Müßiggang zum Kriegsende zelebriert, Italien etwa tanzt am 25. April, die Holländer lassen am 5. Mai die Korken knallen. Die Russen wiederum feiern aufgrund der Zeitverschiebung erst am 9. Mai. Bei uns reicht es hingegen gerade mal für die ein oder andere Rede im Bundestag vor leeren Rängen. Keine Paraden, keine Straßenfeste. Aber wenn man sich die letzten Jahre so anschaut, findet das politische Leben ja eh im Internet und nicht auf der Straße statt.

Deswegen mal ein kurzer Blick in die Kommentarspalten unter dem obligatorischen „Danke!“-Post einer großen Zeitung. Ah ja, das war zu erwarten. „Es reicht jetzt auch mal mit dem Schuldkult“, „Die Sowjets waren genau so schlimme Verbrecher“, „Warum wird das Brandenburger Tor nicht auch in den Lieblingsfarben meiner Katze angestrahlt?“. Danke, Tschüss.

Zum fünfzigsten Jahrestag des Kriegsendes 1995 titelte unser aller irrelevant gewordenes Lieblingsmagazin Spiegel riesengroß „Bewältigte Vergangenheit“. Es ist nicht überliefert, ob ein ausgiebiger Frühschoppen oder der Versuch, besonders dumm zu sein, für diese aberwitzige Überschrift verantwortlich ist, aber eins ist klar: Solange ein Land nicht bereit ist die Arbeit niederzulegen und zu feiern, wenn es befreit wurde, ist weder irgendwas bewältigt noch Vergangenheit. Denn wie schon der Lieblingshumanist eines jeden FDP-Abgeordneten Cicero wusste: „Der ist kein freier Mensch, der sich nicht auch einmal dem Nichtstun hingeben kann.“

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Juri Sternburg, geboren in Berlin-Kreuzberg, ist Autor und Dramatiker. Seine Stücke wurden unter anderem am Maxim Gorki Theater und am Deutschen Theater in Berlin aufgeführt. Seine Novelle "Das Nirvana Baby" ist im Korbinian Verlag erschienen. Neben der TAZ schreibt er für VICE und das JUICE Magazin.  

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