Kolumne Liebeserklärung: Der Zukunft zugewandt

Die Abstiegsangst in Deutschland ist rapide gesunken. Sogar im Osten beziehungsweise – besonders im Osten. Wie kann das sein?

Zeichnung von Tom: Mann mit Blume

Ihr Optimisten im Osten seid die Fackelträger des Fortschritts! Foto: TOM

Gute Nachrichten aus Leipzig, der Metropole des Optimismus, der Kapitale der Lebensfreude, der Residenz steingewordener Zukunftslust: Die Angst der Deutschen vorm sozialen Abstieg war seit 1991 nicht so niedrig wie in diesem Jahr. Nur noch ein Drittel der Bürger dieses Landes verweigert sich der kollektiven Zuversicht und sorgt sich um sein materielles Auskommen. Das liegt, so die Leipziger Verantwortlichen einer Studie, vor allem an einem Rückgang der Zukunftsangst der Ostdeutschen. Die schauen zwar immer noch weniger hoffnungsfroh als ihre westdeutschen Brüder und Schwestern in das Morgen, aber doch mit deutlich nachlassender Panik.

Heißt das nun, dass die ewig Zurückgebliebenen, die Abgehängten und Verlorenen endlich den Anschluss gefunden haben? Bedarf also ihre komplexbeladene Psyche nicht mehr des wärmenden Feuers brennender Wohnunterkünfte fremdländischer Zugereister?

Vielleicht ist die Studie aber nur empirische Spitze eines Eisbergs der Resignation, Ausdruck der mit sich selbst und der Welt zufriedenen Erkenntnis, dass, wer ganz unten angekommen ist, auch keine Angst vor weiteren Abstürzen zu haben braucht. So wie dem nackten Mann nicht mehr in die Tasche zu greifen ist, kann der bis auf die glühenden Kohlen am Grund des kapitalistischen Höllenschlundes hinabgestürzte kaum tiefer fallen.

Außerdem haben die noch immer von der gesamtdeutschen Bürokratie hoffnungslos überforderten Ossis wahrscheinlich irgendwann aufgehört, die Briefe mit ihren Rentenbescheiden zu öffnen. „So schlimm wird es schon nicht sein“, dachten sie vielleicht. Aber doch, es ist so schlimm, viel schlimmer noch: Arbeitsbiografien, rentenrechtlich zur Hälfte abgeschnitten und auf Beitragsleistungen aus Minijobs und ABMs reduziert – ohne Grundsicherung im Alter geht da gar nichts mehr.

Wer ganz unten angekommen ist, braucht auch keine Angst vor weiteren Abstürzen zu haben

Dass unter diesen Umständen nur ein gutes Drittel der Ossis ihre Straße nicht ins Morgenlicht hineinführen sieht, gleicht einem Wunder. Eventuell sind das die, deren Kleingärten einst den „Verkehrsprojekten Deutsche Einheit“ weichen mussten und die nun ohne eigene Kartoffel- und Kaninchenproduktion dastehen. Die anderen aber, egal ob ihr Optimismus tatsächlich nur auf einen Mangel an Informationen gründet, sind die Hoffnung auf Zivilisation östlich der Elbe, Fackelträger des Fortschritts, die Elektroautofahrer von morgen. Und das Flugwesen? Es entwickelt sich!

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Jahrgang 1976, Redakteur für die tageszeitung 2006-2020, unter anderem im Berlinteil, dem Onlineressort und bei taz zwei. Public key: https://pgp.mit.edu/pks/lookup?op=vindex&search=0xC1FF0214F07A5DF4

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.