Kolumne Die eine Frage: Links oder liberal

Von Politikern wie Alexander Van der Bellen zu Emmanuel Macron: Wie gewinnt man Mehrheiten für das offene Europa?

Der französische Präsidentschaftskandidat Emmanuel Macron in Paris

Er kann es schaffen: Emmanuel Macron ist Favorit für die französische Präsidentschaftswahl Foto: dpa

In einer Banlieue von ­Paris stand ich diese Woche an der Tür eines Kindergartens, und das war etwas unbequem, weil Dutzende Kameraleute über mich drüber in den Raum stürmten. Was die fünf Kinder nicht schlecht wunderte, die da auf dem Boden saßen und vor sich hin spielten.

Ich denke nicht, dass sie den Mann kannten, der gerade den Raum betreten hatte, aber das war Emmanuel Macron, Wahlkämpfer und derzeitiger Favorit für das Amt des französischen Präsidenten. Etwa zur selben Zeit sprach der sozialistische Bewerber Benoît Hamon in Marseille. Unter anderem klagte er Macron dafür an, dass dessen Programm die justice sociale fehle, die soziale Gerechtigkeit.

Die er wiederum vertrete. Das versteht sich ja wohl.

Bevor nun die einen nicken, andere gähnen und die Dritten höhnisch auflachen mit Verweis auf die Politik des sozialistischen Amtsinhabers Hollande: Das grundsätzlich Interessante an den Wahlkämpfen dieser Tage scheint mir, dass vielen tradi­tionellen „Linksliberalen“ jedes Verständnis fehlt für die Asynchronität zwischen den Linien links-rechts und liberal-antiliberal

Bei der Wahl in den Niederlanden könnten die Rechtspopulisten um Geert Wilders stärkste Kraft werden. Für die taz.am wochenende vom 11./12. März hat unser Autor Wähler besucht und mit ihnen über ihre Hoffnungen gesprochen. Außerdem: Politiker fordern mehr Härte gegen Gefährder – Menschen, meist potenzielle Islamisten, die bisher keine Straftat begangen haben. Wer widerspricht noch? Und: Was Plastikpuppenbordelle mit Feminismus zu tun haben. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.

Die großen Wahlsieger des letzten Jahres waren Winfried Kretschmann, Alexander Van der Bellen, Donald Trump und der Brexit. Alle Wahlen wurden auf der zweiten Linie gewonnen. Österreichs Bundespräsident Van der Bellen ist ein strategisch herausragendes Beispiel, wie man für die offene Gesellschaft und die EU eine Mehrheit zusammenbekommt, nachdem die Leute das alte Links-rechts-Spiel im ersten Wahlgang rausgeschmissen haben. Das ist auch Macrons Grundlage. „Ni-ni“ lautet sein Slogan, ni gauche, ni droite, nicht links, nicht rechts.

Es zeigt sich zunehmend und bei allen sozialen Problemen, dass man den autoritären Parteien und Bedürfnissen mit dem Fokus auf „sozialer Gerechtigkeit“ nicht beikommt. Wenn die anderen Skat spielen, kannst du mit deiner Schachdame nicht gewinnen. Die Lage ist doch so, dass man eher Macron vorwerfen kann, sozialpolitisch „nicht links“ zu sein, als der autoritären Marine Le Pen.

Für wen müsste dann ein Soziallinker in einem zweiten Wahlgang ­Ma­cron vs. Le Pen stimmen? Eben. Die eine Frage dieses Jahres lautet nicht: Ist das links oder kann das weg? Sie lautet: Was hat jetzt in der ­Realität Priorität?

Eine Antwort gibt der sozialökologische Intellektuelle Ralf Fücks in seinem in dieser Woche erschienenen Buch. Darin insistiert er eben nicht nur auf der ökologischen und emanzipatorischen Wende, damit die letzten Grünen Stammwähler ruhig schlafen können. Er versucht sich an Antworten auf die zentralen Fragen im Jetzt.

Das Buch heißt „Freiheit verteidigen“ (Hanser) und ist ein Plädoyer, die Konterrevolution von rechts nicht durch eine von links zu beantworten. First things first: Vorwärtsverteidigung dessen, was wir lieben und brauchen. Die liberale Moderne ist nicht nach den sozial­ökonomischen Rezepten der Willy-Brandt-Sozialdemokratie zu haben, sie ist globalisiert, im Guten wie im Schlechten, damit muss man umgehen.

So schwer es den Produkten der Individualismuskultur (also uns) fällt, gerade individuelle Freiheit braucht angesichts von Putin, Trump, IS und wachsenden rechts- und linksautoritären Parteien starke republikanische Institutionen; das ist an erster Stelle eine starke und verteidigungsfähige Europäische Union. Für Fücks auch die Nato und Deutschland in einer globalen Führungsrolle. Das mag manchem kulturell fremd sein, und darüber muss man streiten.

Aber grundsätzlich: Wenn auch der sich für progressiv haltende Bürger seine Progressivität sentimental am Vergangenen misst und nicht an dem, was vor uns liegt, dann wird es wirklich dunkel in Europa.

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Chefreporter der taz, Chefredakteur taz FUTURZWEI, Kolumnist und Autor des Neo-Öko-Klassikers „Öko. Al Gore, der neue Kühlschrank und ich“ (Dumont). Bruder von Politologe und „Ökosex“-Kolumnist Martin Unfried

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