Kolumne Das Tuch: Guter Wille heilt keine bösen Taten

Alle wollten nur das Beste. Doch Hatice hat ihre Aussteuer immer noch nicht ausgepackt. Nun hat sie keine Lebenslust mehr.

Hatice bügelt, ich falte. Wir ordnen Teile meines Ceyiz, der Aussteuer, die jede türkische Braut von den Eltern mitbekommt, in meinen Schrank ein. Verziertes Bettzeug, handbearbeitete Handtücher, Decken und Kissenbezüge.

"Frag mich: Bist du glücklich? Bin ich nicht", sagt Hatice. Urplötzlich. Sie steht vor dem Bügelbrett und hält inne. Ich bin irritiert. Ich kenne sie nur flüchtig, sie kam heute zu mir, um mir ein wenig im Haushalt zu helfen. Ich sehe, wie ihr eine Träne über die Wange läuft. Sie streicht sie weg. "Weißt du, Kübra, ich habe meine Ceyiz nie benutzt", sagt sie und lächelt mich an.

Hatice ist Mitte vierzig, sie könnte meine Mutter sein. Sie hat traurige Augen, eine leise Stimme und eine herzliche, liebevolle Art. "Warum nicht?", frage ich und lege die Wäsche zur Seite. Sie erzählt. Mit siebzehn Jahren kam sie als Braut aus der Türkei nach Deutschland zu einem Mann, den sie weder kannte noch liebte.

Ihr Vater hatte den Bräutigam ausgesucht, und mit dem Ceyiz im Gepäck hatte er seine Tochter nach Berlin geschickt. Man versicherte ihr, sie hätten ihr dort eine kleine Wohnung fertig eingerichtet. Nur sie fehle noch.

Sie kam in Berlin an und alles fehlte. Es gab nur die Wohnung der Schwiegereltern, darin eine Matratze im Wohnzimmer und eine kleine freigeräumte Ecke im Kleiderschrank. Fünf Jahre lang. Hatices Ceyiz blieb ungeöffnet im Keller. Es gab kein Zimmer, das sie hätte einrichten, kein Bett, das sie hätte beziehen können.

Mit der Geburt des ersten Kindes zogen sie und ihr Mann endlich aus - raus aus der Wohnung, in der ihre Schwiegereltern alles bestimmten und ihr Mann - "er ist ein liebenswürdiger Mensch" - stillschweigend gehorchte.

Heute hat sie drei Kinder. Ihr Ceyiz ist noch immer ungeöffnet. "Es ist doch nie zu spät. Du kannst noch immer Deutsch lernen und deine Ceyiz auspacken", sage ich und schäme mich meiner Unfähigkeit, etwas Sinnvolles zu sagen. "Ich habe keine Lebenslust mehr", entgegnet sie.

Hilflos sehe ich Hatice zu. Ich ärgere mich über all die Menschen, die Fehler machten und die ich doch irgendwie verstehe. Ihren Mann, der aus falsch verstandenem Respekt vor seinen Eltern kuschte; die Schwiegereltern, die in der Fremde um jeden Preis die Familie zusammenhalten wollten, Hatices Vater, der nur das Beste für seine Tochter hoffte.

Nein, guter Wille heilt die schlechte Tat nicht. "Innerlich habe ich ihnen nie vergeben", sagt Hatice. "Aber ich hatte bereits die drei glücklichsten Momente in meinem Leben: die Geburten meiner Kinder. Sie reichen mir auf ewig."

Wie kann das reichen, frage ich mich. Ich kann sie nicht verstehen. In mir brodelt es.

Am Abend besuche ich Verwandte in Hamburg. Meine Tante liegt in den Wehen, und als wir in die Klinik kommen, ist das Kind bereits da. Meine Tante liegt erschöpft auf dem Bett und hat noch Schmerzen - aber sie lächelt glücklich. Ihre Augen leuchten. Sie strahlt. Und ich glaube, ich kann ein bisschen verstehen, was das große Glück weniger Momente vermag. Auch wenn es kein Unrecht ungeschehen macht.

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Jahrgang 1988. Autorin des Bestsellers "Sprache und Sein" (Hanser Berlin, 2020). Bis 2013 Kolumnistin der Taz. Schreibt über Sprache, Diskurskultur, Feminismus und Antirassismus.

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