Kolumne Darum: Der engste Raum der Welt

Eigentlich ist der Flur gar nicht so klein – außer wenn sich vier Leute darin anziehen wollen. Mein Gefühl der Enge muss ein Wahn sein.

Kinder lieben Enge Bild: imago/Michael Schick

So viel lässt sich gleich sagen: Zum Schreiben taugt er nicht. Statt wie sonst am Schreibtisch verfasse ich meine Kolumne diesmal am Boden liegend. Ich möchte vor Ort untersuchen, woher mein Wahn kommt, der mich seit Jahren in einem bestimmten Raum unserer Wohnung befällt. Mein Wahn, unser kleiner Flur sei der engste Raum der Welt.

Es muss ein Wahn sein. Ich habe öfter kleinere Räume gesehen und mich in ihnen bewegt: Kellerräume, Besenkammern, Dixi-Klos. Und doch bleibt das Gefühl, dass dieser 1,90 mal 1,75 Meter große und 2,58 Meter hohe Raum enger ist als eine Bauarbeitertoilette.

1,90 Meter bedeutet: Ich kann gerade so ausgestreckt liegen. Der Rücken tut weh, weil auf dem Laminat kein Teppich verlegt ist. Der Laptop drückt auf den Bauch. Und das Gefühl der Enge ist da, anders als sonst, weniger stark. Woran kann das liegen? Was ist anders?

Ich schaue mich um. Die Abmessungen haben sich nicht verändert. Vom Boden aus gesehen sind die 2,58 Meter Raumhöhe beeindruckend. 8,5 Kubikmeter Luft fasst der Raum, das ist nicht wenig. Auch die Grundfläche von 3,32 Quadratmetern ist ausreichend. Ich schaue genauer hin.

Da steht ein Schuhregal, 37 Zentimeter tief, 85 Zentimeter breit, 78 Zentimeter hoch. Das heißt, von der Grundfläche sind 0,31 Quadratmeter verbaut. Hinzu kommen etwa 50 mal 80 Zentimeter für rausgefallene Schuhe, also müssen weitere 0,4 Quadratmeter abgezogen werden.

Empirische Forschung – wie gut

An zwei von drei Türen, durch die man den kleinen Flur in ein Bad, in die Küche oder zur Wohnung heraus verlassen kann, hängen Jacken. Im Winter mehr, im Sommer weniger. Es ist Winter, und sie nehmen nochmals je 30 Quadratzentimeter Raum in Anspruch. 3,32 minus 0,31 minus 0,4 minus zweimal 0,3 macht 2,01 Quadratmeter freie Fläche. Das ist nicht viel, aber immer noch kein Grund, vom engsten Raum der Welt zu sprechen.

In was für einen Wahn habe ich mich hier reingesteigert? Wie gut, dass nun empirische Forschung die Grundlagen des Wahns zunichtemacht. Ich atme auf. Aber nicht lange. Ein Schlüssel scharrt im Schloss. Er öffnet die Tür – zur Wohnung und zu meinem Wahn. Plötzlich ist da wieder die Vorstellung, wie es in diesem Flur zugeht, wenn ich dort nicht allein herumliege.

Kinder lieben Enge. Anders ist es nicht zu erklären, warum sie nachts aus ihrem eigenen Bett in ein anderes kommen, das für zwei Menschen gemacht ist, in dem aber schon drei liegen, wenn sich der vierte noch reinquetscht. Und es ist morgens zu beobachten, in unserem kleinen Flur, wenn zwei Erwachsene und zwei Kinder gleichzeitig losmüssen.

Wenn sich vier Leute auf 3,32 Quadratmetern Jacken, Mützen Schals und Schuhe anziehen, kommen sie sich ohnehin in die Quere. Wer in dieser Situation aber seinen Schulranzen dort abstellt oder sich mit dem Ranzen auf dem Rücken ständig im Kreis dreht und dabei womöglich auch noch seinen Roller oder sein Fahrrad hin und her schiebt, darf sich nicht wundern, dass mein Wahnsinn immer wieder ausbricht – werktags zwischen 7.30 Uhr und 7.35 Uhr im engsten Raum der Welt.

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Jahrgang 1969, Leitender Redakteur des Amnesty Journals. War zwischen 2010 und 2020 Chef vom Dienst bei taz.de. Kartoffeldruck, Print und Online seit 1997.

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