Kolumne Darum: Freiheit an der Leine

In Spielen schlüpfen Kühe aus Eiern, in der Realität werden Kinder angebunden. Absurd, klar. Noch absurder geht es in Familien aber woanders zu.

Die freie Zeit, die einem die Kinder lassen, könnte man in der Hängematte verbringen. Aber da liegt schon ein Kind drin. Bild: dpa

Es ist eine seltsame Welt, die aus den digitalen Spielen unserer Kinder herausschaut. In „Minecraft“ schlüpfen Kühe aus Eiern. In „Civilization Revolution“ kämpft der Sohn als deutscher König Bismarck mit Panzerarmeen gegen atztekische Bogenschützen. Die Tochter startet „Sims 3“ und „gründet“ erstmal eine Mutter. Kinderspiele sind absurd? Ja, sicher.

Die Welt der Erwachsenen kann locker mithalten. Neulich las ich in der taz über eine skurrile Debatte. Immer mehr Eltern kleiner Kinder scheinen vom Bedürfnis getrieben, ihre Kinder an der Straße anzuleinen, damit ihnen nichts passiert.

Haben sie keine Hände, die sie den Kindern reichen können, um gemeinsam über die Straße zu gehen? Oder sind die Hände mit Smartphone und Latte Macchiato stets belegt, sodass sich die Leinenpflicht von selbst ergibt? Nichts als dämliche Stereotype, mag hier ein Leinenfreund einwenden, „ich habe drei Kinder, aber nur zwei Hände!“ Nun ja, die Kindergärtnerin, die einen Ausflug mit zwölf Kindern macht, hat auch nur zwei Hände und leint trotzdem niemanden an.

Im Grad der Absurdität reichen weder die Leinendebatte noch „gegründete Mütter“ an das heran, was unseren Alltag mit Kindern prägt. Stets ist alles neu, alles anders, jeder spontane Impuls zieht Folgen nach sich. Ein begeisterter Fußball-Torwart wirft plötzlich hin und geht fortan zum Schach- und Fechttraining. Man selbst hat länger gebraucht, um sich auf die Atmosphäre am Rand eines Fußballfelds einzustellen; alles Gelernte – laut ins Spiel rufen, über den Schiedsrichter schimpfen – ist beim ersten Schachturnier kontraproduktiv.

Die neuen Freiheiten

Eine begeisterte Schwimmerin will am Mittelmeer lieber über den Nahostkonflikt diskutieren als ins Wasser zu gehen. Wir sind vorgewarnt: Die Präpubertät beutelt sie nach Kräften. Doch das Kind macht sich einfach nichts daraus, bleibt gut gelaunt. Wie soll man damit nun wieder umgehen? Anderswo wird das Fechten wieder abgebrochen. Nun ist Skaten dran. Oder doch wieder Fußball?

In all diesem Hin und Her geht fast unter, dass die Kinder uns immer weniger brauchen. Zwar sind Fahrdienste zu einer ranzigen Schulaula oder einer muffigen Turnhalle immer noch Pflicht, aber nicht mehr lange. Die Zeiten, in denen beide Kinder überall hin begleitet werden mussten, sind längst vorbei. Die Zeiten, in denen beide Kinder zumindest noch Zuspruch und Anteilnahme an ihren Aktivitäten einforderten, gehen gerade zu Ende. Die Zeiten, in denen vieles an uns Eltern vorbeiläuft, beginnen gerade.

Das fühlt sich gut an. Denn es klingt nach neuen Freiheiten, die uns zufallen. Spontane Verabredungen sind wieder möglich, neue Sportarten können entdeckt – dieses Fechten, wäre das nichts für mich? –, alte Leidenschaften neu belebt werden. Doch ich bleibe passiv.

Fast 13 Jahre elterliche Pflichten lassen sich nicht einfach so abschütteln. Und wer weiß, vielleicht kommt ja bald ein Rollback und die Kinder wollen permanent an der Leine ausgeführt werden. Bis dahin aber haben wir Eltern plötzlich wieder Zeit – und wissen sie nicht zu nutzen. Wie absurd ist das denn?

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Jahrgang 1969, Leitender Redakteur des Amnesty Journals. War zwischen 2010 und 2020 Chef vom Dienst bei taz.de. Kartoffeldruck, Print und Online seit 1997.

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