Kirchlicher Außenseiter: „Jede gute Predigt verletzt religiöse Gefühle“

Pastor Ulrich Hentschel geht in den Ruhestand. Eine Begegnung mit einem Kirchenmann, der selten betet und den Streit nicht fürchtet.

Deckte unangenehme Details in der Geschichte seiner Kirche auf und bekommt trotzdem ein Symposium zum Abschied: Pastor Ulrich Hentschel. Foto: Miguel Ferraz

HAMBURG taz | Manchmal blieb er allein. Manchmal fand sich kein Mitstreiter, kein Gleichgesinnter und kein Verbündeter. Etwa, als er die Kirche, in der er am längsten Pastor war, für die Jugendweihe öffnen wollte. Für die Konkurrenz also, wie man ihm sofort vorhielt. „Wenn man sich seiner Sache gewiss ist, muss man Konkurrenz doch nicht fürchten“, sagt der umstrittene Hamburger Pastor Ulrich Hentschel heute und er sagte es damals. Doch es war nichts zu machen.

„Mindestens zu 50 Prozent bin ich gescheitert“, sagt er rückblickend. Hentschel klingt dabei kein bisschen enttäuscht; überhaupt nicht geknickt. Sondern so, als ob das dazugehört, wenn man ein streitbarer Geist war und blieb.

Draußen vor Hentschels Büro rauscht der Verkehr vierspurig die Königstraße entlang, von Altona nach St. Pauli, von St. Pauli nach Altona. Zuletzt war er für den Bereich „Erinnerungskultur“ der Evangelischen Akademie der Nordkirche zuständig. Nun endet diese Zeit in wenigen Tagen. Hentschel geht mit 65 Jahren in Rente. Die Kirche wird ihm einen Abschiedsgottesdienst ausrichten – und, das ist besonders, ein Symposium. Titel der Veranstaltung: „Vorwärts – und nicht vergessen! Opposition und Institution“. Mit „Institution“ ist die Kirche gemeint.

Als Linker lebe es sich in der Kirche „gut und schwer“, sagt der Pastor. Er hat es sich selbst nicht leicht gemacht, die Konfrontation gesucht. Anders war Hentschel schon in der Schule. Als einziges evangelisches Kind ging er in eine katholische Klasse im emsländischen Haselünne. Ein stramm katholisches Stammland. „Da musste man sich überlegen, warum sind wir anders?“, sagt er. Sein Vater war selbst Pastor und ein Flüchtling aus Schlesien. Seine Mutter Flüchtling aus Magdeburg.

In der Fremde seine Aufgabe zu finden, sei eine linke Haltung, findet Hentschel. Und er stellt kurz und knapp fest: „Ich muss mich nicht identifizieren mit einem Volk, einem Staat – mit Deutschland. Überhaupt nicht!“

Nach dem Abitur ist klar, dass Hentschel den Wehrdienst verweigern wird. Er ist 16 Jahre alt, als er sich zum ersten Mal offensiv als Christ gegen die Institution Kirche stellt – beim Weihnachtsgottesdienst, den sein Vater hält, steht er vor der Kirche und verteilt Flugblätter. Seine eigenen Flugblätter, nicht die irgendeiner Organisation. Er protestiert gegen die Scheinheiligkeit der Kirche: dass man einmal im Jahr groß feiert, während woanders Menschen das Jahr über hungern.

Nach dem Studium taucht er in die linke, christliche Protestwelt ein, die nicht nur die Friedensbewegung prägen wird. Er fühlt sich der Kirche trotz aller Kritik nahe, wird Vikar, 1977 schließlich Pastor in einer Gemeinde in Rellingen. Er ist erfolgreich, ist streitbar, ist links, eckt an. Und er wird vier Jahre später suspendiert.

Weniger auf Veranlassung des zuständigen Kirchengemeinderates, sondern auf Druck der Kirchenoberen in Kiel, so sieht er das heute. „Ich bin darüber krank geworden, ich habe Depressionen bekommen und eine Psychotherapie begonnen“, erzählt er ohne zu zögern. Niemand gehe glatt durchs Leben. „Ich möchte ja auch Anerkennung, aber ich möchte auch meine Bischöfin kritisieren können“, sagt Hentschel. Und ganz selten habe er sich gewünscht, auch mal ein bisschen blinder sein zu können.

Nach der Kündigung findet er neue Aufgaben, bewirbt sich aber immer wieder in Kirchengemeinden als Pastor. Doch er wird nicht genommen – auch wenn man ihm sagt, das Bewerbungsgespräch mit ihm sei das spannendste im ganzen Verfahren gewesen. Die Gemeinden sind nicht bereit für einen so streitbaren Geistlichen.

Dann klappt es: 1992 wird er Pastor an der St. Johanniskirche in Altona, 18 Jahre lang. In dieser Zeit wandelt sich die Kirche in eine Kulturkirche – weil sie saniert werden muss. Zweieinhalb Millionen D-Mark stehen dafür zur Verfügung. Und Hentschel fragt: Ist es richtig, so viel Geld zu investieren, damit sich Sonntag für Sonntag 30 Leute gut fühlen? Seine Antwort: Die Kirche müsse sich für den Stadtteil öffnen. Heute ist die Kulturkirche eine GmbH; kann gemietet werden. „Ich würde sagen, das Konzept ist zu 60 Prozent aufgegangen“, sagt Hentschel.

Doch die Kirche ist nur eine seiner Baustellen: Er hilft, die heute sehr erfolgreiche kirchliche Einrichtung Fluchtpunkt zu gründen; er ist dabei, als die Gruppe behinderter Künstler, die Schlumper, sich in einem Verein organisiert und so ihren Weg raus aus der Stiftung Alsterdorf findet. Und er ist nicht zuletzt mit dafür verantwortlich, dass es heute die „Neue Wohnung“ gibt.

Auch dies eine typische Hentschel-Geschichte: „Im Winter 1993 haben wir Container für obdachlose Menschen aufgestellt.“ Dieses Winternotprogramm sei gut gelaufen. Nach dem Winter hätten sich Hentschel und seine Unterstützer für ihr gutes Werk auf die Schulter geklopft, sagt der Pastor – bis ein Mitarbeiter fragte, ob sie die Obdachlosen nun einfach auf die Straße werfen wollten. Hentschel suchte eine Stiftung, die seitdem Containerplätze und zwei Häuser finanziert – mit rund 100.000 Euro im Jahr.

Im Jahr 2000 verlässt er St. Johannis, wird Studienleiter des Bereichs „Erinnerungskultur“ an der evangelischen Akademie. Schon vorher hat er sich mit der Geschichte seiner Kirche beschäftigt. Als Hentschel in St. Johannis antrat, nahm er sich als erstes das Kriegerdenkmal im Schatten der Kirche vor. Inschrift: „Den Gefallenen zum dankbaren Gedächtnis, den Lebenden zur Mahnung, den kommenden Geschlechtern zur Nacheiferung.“

„Ich habe denen damals gleich gesagt: Ich kann hier nur Pastor werden, wenn dieses Denkmal geändert wird.“ Und er sorgte dafür, dass das Kriegerdenkmal mit einem Gegendenkmal konfrontiert wurde. Der Pastor machte sich damit nicht nur Freunde.

„Es gab übelste Anfeindungen; richtig faschistoide Ausfälle, das können Sie ruhig schreiben“, sagt er wütend. Die Schreiber kamen aus Eppendorf, hatten mit Namen unterschrieben, erinnert sich Hentschel. Dem Protest beugen wollte er sich nicht. „Das Kriegerdenkmal war dermaßen martialisch, hätte da nur ein Findling gelegen, wer weiß, ob ich mich so hineingekniet hätte.“

Hentschel bohrte weiter. Er entdeckte, dass die Altonaer Kirche Garnisonskirche war. Dass man hier die Rekruten segnete, auf ihrem Weg zu den Schlachtfeldern, und dass der damalige Propst überzeugter Nazi war.

Und er reinszenierte zusammen mit dem Theatermacher Michael Batz eine Massenhochzeit, die 1933 in dieser, seiner Kirche stattgefunden hat: 133 Frauen, die beim Tabakkonzern Reemtsma arbeiteten, wurden mit 133 Männern, überwiegend aus Dithmarschen, verheiratet. Die Frauen erhielten eine Geldprämie – die Männer deren Arbeitsplätze. „Vor dem Altonaer Rathaus, wo die standesamtliche Trauung war, hingen die Flaggen der Nazis, von Reemtsma und der Kirche.“ Der Pastor will solche Geschichten erzählen, nichts verschweigen.

Hentschel steckt sich eine Zigarette an. Er hatte damit schon aufgehört, aber wieder angefangen. „Ich will nicht allen gerecht werden. Jede gute Predigt verletzt religiöse Gefühle“, sagt er noch. Und er verzieht leicht das Gesicht, um zu zeigen, wie es ihm geht, wenn man ihm sagt: „Oh, heute haben Sie aber schön gepredigt!“ Er suche keinen Streit, aber er fürchte ihn auch nicht. Er sagt: „Ich bete eher selten, aber wenn – dann muss es Gültigkeit haben.“

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