Kerrin Stumpf über Inklusion: „Der Schreck in den Augen der Lehrerin“

Seit sechs Jahren gilt auch in Hamburg das Recht auf inklusive Bildung. Für „Leben mit Behinderung“ fehlt es an Phantasie für neue Lernwege.

Alle Kinder haben zusammen Spaß: Inklusion im Sportunterricht. Foto: Andreas Arnold/dpa

taz: Frau Stumpf, die letzten Zahlen der Schulbehörde zeigen, dass die Eltern behinderter Kinder diese weiter eher zur Sonderschule schicken. Würden Sie dazu appellieren, den Sprung an die Regelschule zu wagen?

Kerrin Stumpf: Mein Appell an die Eltern ist es, solidarisch miteinander zu sein und zu beschreiben, was für die eigenen Kinder wichtig ist.

Die Hamburger Lehrerkammer warnt davor, dass „Schüler mit Förderbedarf ohne weitere Ressourcen bei der Inklusion Gefahr liefen, zum lästigen Sand im Getriebe in einem traditionellen Fachunterricht zu werden“.

Das ist eine Dramatisierung der Kinder mit besonderem Förderbedarf, die aus unserer Elternsicht kontraproduktiv ist. Hamburg hat mit dem Rechtsanspruch und der Wahlfreiheit der Eltern einen großen Rahmen gesetzt. Die Stadt steht vor der Herausforderung, dass sie damit eine Regelversorgung anbietet, die real noch nicht existiert.

45, ist Juristin, Mutter und Geschäftsführerin des Elternvereins „Leben mit Behinderung Hamburg“.

Was bedeutet das praktisch?

Es ist ein Arbeitsprozess. Die einen Eltern erleben das schon als ganz positiv und treffen auf Schulen, die sich sehr anstrengen, sie sind vielleicht auch selbst kompromissbereit. Und andere sehen, das klappt bei mir noch gar nicht oder es gibt echte Bremsbewegungen in der Schule.

Die Sorge der Lehrerkammer scheint vor allem bei den mangelnden Ressourcen zu liegen .

Es sind nicht die Ressourcen, die das entscheidende Umdenken möglich machen. Es ist viel schwieriger, die Prozesse zu verändern, also gemeinsames , binnendifferenziertes Lernen in Lerngruppen anzubieten.

Warum?

Weil man dann nicht unterscheidet: Hier ist der Sonderpädagoge für die behinderten Kinder und dort der Fachlehrer, der sich um die anderen kümmert. Stattdessen gibt es dann ineinander verschränkte Situationen – und das ist nicht eine Frage der Ressourcen, ob da noch ein Schulbegleiter ist und noch ein Schulbegleiter. So stellen es sich viele aber vor.

Sind die Lehrer denn ausreichend ausgebildet und vorbereitet?

Die Unterscheidung von Fach- und Sonderlehrer sollte es in Zukunft so gar nicht geben. Ein zweiter Punkt ist, dass Lehrer heute, auch gerade in Hamburg, durch die vielen sozialen Brennpunkte an sich sehr überfordert sind.. Dann noch mit Sonderförderbedarfen umgehen zu müssen, ist im Einzelfall sicher eine große Anforderung.

Sind viele Lehrer schlicht nicht davon überzeugt, dass Inklusion das bessere Konzept ist?

Viele Schulen bieten heute schon weit mehr als eine bestimmte Bildungswelt, der Schüler sich anpassen müssen. Aber wenn der Alltag einem an die Gurgel springt, dann wünschen sich Lehrer vielleicht Schonräume, in denen sie ihr Wissen einfach vermitteln können.

Warum war die Zahl der Eltern, die ihre Kinder von der Sonderschule hin zur Regelschule ummelden, bislang so gering?

Ich glaube, dass Eltern – zu Recht – anspruchsvoller geworden sind als früher. Sie sagen nicht mehr abenteuerlustig: Hauptsache Regelbeschulung . Sie wissen, was Therapie und besondere Förderung einem Kind bieten können.

Welche Kompromisse müssen die Eltern behinderter Kinder machen, wenn sie sie auf die Regelschule schicken?

Wir Eltern sind in einer Falle. Vom ersten Tag unseres Lebens mit Behinderung vermittelt man uns, dass mehr Förderung auch mehr Selbständigkeit bringt. Doch im Grunde haben unsere Kinder im Netzwerk mit allen die größte Chance auf ein selbstbestimmtes Leben. Zugleich müssen wir auch in einer inklusiven Gesellschaft Fachleute und selbstverständliche Assistenz fordern.

Eigentlich ist es erstaunlich, dass in einer Zeit, in der die Eltern der Regelschulen ängstlich über die Wettbewerbsfähigkeit ihrer Kinder wachen, die Inklusion vorangetrieben wird, die mit langsamerem Lernen assoziiert wird .

In der Inklusion geht es nicht darum, dass wir Menschen mitmachen lassen, sondern das Ressourcenkonzept neu zu überdenken Es geht darum, ganz konkret zu überlegen: Wie kann Matheunterricht funktionieren bei den unterschiedlichen Begabungen. Wenn da ein Autist ist mit mathematischer Hochbegabung, und daneben jemand, der sich Quadratmeter dann vorstellen kann, wenn er in einem Raum steht und überlegt, wie viel Liter Farbe er bräuchte, um ihn auszumalen – dann muss ich so differenziert Mathe machen. Das macht Lehrer heute viel stärker zu Managern des Lernens als der altmodische Lehrer, der sagt: an meinem Vorbild überzeuge ich dich so zu denken, wie ich denke.

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