Juristin über Weimarer Verfassung: „Ein täglicher Kampf“

Die deutschtürkische Verfassungsrechtlerin Ece Göztepe spricht über die Weimarer Verfassung, das Grundgesetz und ihre Sorge um die türkische Demokratie.

Schwarz-weiß-Bild einer Versammlung

Die verfassungsgebende Versammlung in Weimar 1919 Foto: dpa

taz: Vor 100 Jahren wurde die Weimarer Verfassung erarbeitet. Auch das deutsche Grundgesetz wird im Mai 70 Jahre alt. Sollte es jeder deutsche Bürger gelesen haben?

Ece Göztepe: Das gesamte Grundgesetz zu lesen ist meiner Meinung nach eine Zumutung. Denn die Kompetenzregelungen zwischen Bund und Ländern sind sehr schwer zu verstehen. Aber ich glaube, jeder Bürger sollte einmal die ersten 20 Artikel und die Ewigkeitsklausel, Artikel 79, gelesen haben.

Gesellschaftliche Umbrüche und die Neuausrichtung politischer Bündnisse bestimmen derzeit Deutschland und die Welt. Sehen Sie Ähnlichkeiten zwischen der späten Weimarer Republik und der heutigen Bundesrepublik?

Ich glaube nicht, denn die Weimarer Verhältnisse waren von Extremen von allen Seiten bestimmt. Und zurzeit gibt es in Deutschland natürlich ein paar extreme Strömungen, aber der Grundkonsens der Gesellschaft und der politischen Akteure im Rahmen des Grundgesetzes existiert immer noch und ist aus meiner Sicht bisher sehr stabil.

Das kann sich natürlich auch ändern.

Richtig, keine Gesellschaft kann es sich leisten, sich auf einer gut funktionierenden Demokratie auszuruhen. Das ist ein täglicher Kampf um die existierenden Strukturen. Man muss um die demokratischen Grundwerte kämpfen.

Sprechen Sie in dem Zusammenhang auch von Ihren Erfahrungen in der Türkei?

Ja, denn der Grundkonsens einer demokratischen Gesellschaft wird in der Türkei fast jeden Tag infrage gestellt. Die politischen Machthaber versuchen immer wieder, die verfassungsrechtlichen Grenzen zu überschreiten. Deswegen ist die türkische Demokratie meiner Meinung nach sehr gefährdet. Außerdem ist die Opposition so stark gespalten, dass sie sich auch auf Grundpositionen nicht einigen kann.

47 Jahre, Dekanin der juristischen Fakultät der Bilkent-Universität in Ankara

Als Wissenschaftlerin in Ankara scheuen Sie sich nicht davor, die Regierung der Türkei öffentlich zu kritisieren. Das birgt Gefahren. Wie gehen Sie damit um?

Dieser Beruf lebt von Meinungsfreiheit. Wenn Sie sich selbst zensieren, dann dürfen Sie diesen Beruf nicht ausüben. Nach dem versuchten Militärputsch habe ich mir lange überlegt, was ich tue, und Gespräche mit Kollegen und meinem Ehemann geführt, der auch Professor ist. Wir alle fragten uns, ob wir den Job aufgeben sollen. Ich habe ihn nicht aufgegeben und führe mein Leben so weiter wie bisher. Wenn etwas passiert, ist es Schicksal.

Ihrer Beobachtung nach ist innerhalb populistischer Strömungen in der Türkei oft die Rede von „den Anderen“.

Eines der Hauptprobleme in der türkischen Politik ist, dass der Gegner immer als absoluter Gegner angesehen wird. Die Aleviten gehören nie zur Gesellschaft. Wenn man Armenier ist, ist man auch der Andere. Das gilt auch für die säkulare Frau. Die Basis für einen Konsens wird ständig verneint. Das finde ich sehr gefährlich. Ich kann bei einem Sachverhalt mit der Meinung einer bestimmten Gruppe übereinstimmen und bei einem anderen Problem eine gegenteilige Position einnehmen. Wenn man aber immer eine absolute Gegnerschaft aufbaut, hat man überhaupt keine Chance, miteinander ins Gespräch zu kommen.

Sie sagen, bestimmte Flüchtlingslager und das US-Gefängnis Guantánamo seien nur möglich, weil wir uns von „den Anderen“ abgrenzen. Inwiefern?

Oft ist die Rede von „Nie wieder Holocaust“. Natürlich wird es die Naziherrschaft, wie wir sie 1933 bis 1945 erlebt haben, nie wieder geben. Aber es werden andere Formen von diesem Rechts- oder Politikverständnis entstehen. Und das ist das Gefährliche. Man sagt einfach, das passiert nie wieder. Es wird keine systematische Vernichtung einer Religionsgemeinschaft oder von Dissidenten geben. Aber es gibt andere Formen von Rechtsverletzungen, wenn man zum Beispiel den Flüchtlingslagern in Nordafrika den Rücken kehrt oder nicht mehr nachfragt, was in Guantánamo geschieht. Wie viele Gefangene sich dort aufhalten, wissen wir nicht. Unter welchen Umständen sie leben, ist uns auch unbekannt. Niemand fragt mehr nach. Man verneint richtigerweise die Wiederkehr der Geschichte, aber es gibt immer wieder andere Arten der Rechtsverletzung. Es wird sich nicht genauso wiederholen, wie es war. Aber andere Formen entstehen, gegen die wir uns auflehnen sollten.

Wie können wir eine Gesellschaft entwickeln, in der wir uns nicht ständig von anderen abgrenzen?

Mein Hauptproblem ist, dass man immer gleich mit einer Identität konfrontiert wird. Ich bin zum Beispiel nur die Frau, die Türkin oder die Frau ohne Kopftuch. Man sollte eher den Menschen erkennen. Ich bin vieles. Man muss mich nicht lieben, mich aber in meiner Gesamtheit wahrnehmen. Man muss auch nicht um der Freundlichkeit willen die Türken lieben. Man liebt nicht eine Nation, sondern Menschen. Mit denen müsste man sich auseinandersetzen. Und wenn man mit deren Ansichten nicht einverstanden ist, auch Kritik üben können. Man muss auf Menschen zugehen und sie als eine Gesamtheit aus vielem wahrnehmen. Das braucht Zeit. Demokratie ist eine Geduldsache.

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