Journalisten in Polen: Ein Auge auf die Politik

Polens Regierung beschneidet die Pressefreiheit. Gefeuerte Journalisten gründen nun neue Portale – und fordern: Glaubt dem Staatsfernsehen nicht alles!

Demonstranten bei einem Protest gegen die polnische Regierung

„Freiheit und Demokratie“: Teilnehmer eines Protests gegen die polnische Regierung Foto: dpa

Wären am nächsten Sonntag Wahlen, würden die meisten Polen wieder für die rechtsnationale Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) stimmen. Denn unter dem warmen Geldregen – Kindergeld, frühere Renten und kostenlose Medikamente für über 75-Jährige, höheres Mindesteinkommen und niedrigere Zinsen für Devisenkredite – wird für viele der Traum vom reichen Westen endlich wahr.

1989 hatte die Mehrheit der Polen für den Systemwandel gestimmt. Doch dann hieß es immer nur: Gürtel enger schnallen! Oder: Zähne zusammenbeißen und durch! Dass TVP, das einstige öffentlich-rechtliche Fernsehen, inzwischen fast nur noch PiS-Propaganda sendet, stört die meisten Polen nicht. Noch können sie ja zu den Privaten umschalten.

Eigentlich sollte dem kleinen Mediengesetz, mit dessen Hilfe die PiS fast alle Fernseh- und Rundfunkdirektoren entlassen konnte, gleich das große folgen. Neben der Koppelung der Fernsehgebühr an die Stromrechnung sah es auch die „Polonisierung“, die „Verstaatlichung“ fast aller ausländischen Pri­vat­me­dien vor. Doch angesichts des zu erwartenden Ärgers mit der EU wurde das Projekt vorerst auf Eis gelegt. So muss sich TVP seit Monaten der Konkurrenz von Polsat, TVN, TV-Puls und anderen Sendern stellen.

Und die Zuschauer im Alter von 16 bis 49 Jahren, die sich am stärksten für Politik interessieren und die wichtigste Zielgruppe für Werbung sind, schalten immer öfter um. Die Hauptnachrichtensendung „Wia­do­mosci“, die inzwischen auch „Und was hat uns der PiS-Parteivorsitzende heute zu sagen?“ heißen könnte, verlor seit Januar weit über eine Million Zuschauer, wie das Forschungsinstitut Nielsen Audience Measurement berichtet.

Fernsehstars nehmen ihre Fans mit ins Internet

Die Privatsender Polsat und TVN hingegen liegen mit einem durchschnittlichen Marktanteil von rund 12 und knapp 10 Prozent bei der Hauptzielgruppe beinahe gleichauf. Erst danach folgen TVP I mit knapp 8 Prozent sowie TVP II mit gut 7 Prozent und der Privatsender TV Puls mit rund 5 Prozent Marktanteil.

Dass gefeuerte Fernsehstars wie Tomasz Lis, dessen politische Talkshows immer Spitzenwerte erreichten, ihre Anhänger einfach ins Internet mitnehmen könnten, hatte kaum einer der Fernsehmächtigen für möglich gehalten. Doch genau das passierte. Seit Februar läuft seine Talkshow jeden Montag um 19.30 Uhr auf der Website von Newsweek Polska und dem größten polnischen Internetportal Onet.pl, danach kann man sie per Video-on-Demand anschauen. 30 Millionen Mal wurde die Sendung bislang angeklickt und meist in voller Länge verfolgt.

Die Angst kann sie jederzeit einholen. In der U-Bahn, am Schreibtisch, im Café. Wie unsere Autorin lernte, ihre Angst zu lieben, lesen Sie in der taz.am wochenende vom 13./14. August 2016. Außerdem: Um Bio-Eier möglichst günstig zu produzieren, nutzen einige HalterInnen alle Grauzonen der EU-Richtlinien. Wie viel bio steckt im Öko-Ei? Und: Die Türkei zwischen "Säuberung" und Märtyrerverehrung. Pınar Öğünç über eine Gesellschaft, in der sich eine Hexenjagd-Atmosphäre einzurichten scheint. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.

Eine ganze Reihe der über 100 JournalistInnen, die bislang in öffentlich-rechtlichen Medien gearbeitet hatten, fanden so ein neues Auskommen. Möglicherweise wird auch die Auslandsberichterstattung mit Korrespondenten vor Ort demnächst auf Internetportalen stattfinden. Denn die zurzeit auf TVP ausgestrahlten Auslandsbeiträge haben mit der Rea­li­tät vor Ort kaum etwas zu tun. Jacek Kurski, der Fernsehintendant, der vor Kurzem fast selbst von missgünstigen Parteikollegen im Rat der nationalen Medien gefeuert wurde, will weitere 300 bis 350 „überflüssige Mitarbeiter“ auf die Straße setzen. Wen es treffen soll, ist noch offen.

Da der Medienmarkt in Polen nicht groß genug ist, bleibt vielen nur der Jobwechsel zum Pressesprecher eines Unternehmens oder Verbands. Andere aber, und das sind immer mehr, gründen Internetportale. Zuletzt entstanden Portale wie oko.pl, mediumpubliczne.pl oder koduj24.pl – übersetzt „Auge“, „Öffentliches Medium“ oder „Kodiere 24 Stunden lang“.

Stiftungen statt Firmen

Vor knapp vier Jahren hatte Tomasz Lis mit dem Portal natemat.pl – „Zum Thema“ – gezeigt, dass man mit Journalismus im Internet durchaus seinen Lebensunterhalt verdienen kann. Anders als Lis gründeten die anderen Journalisten aber keine Firma, sondern Stiftungen, die auch EU-Zuschüsse beantragen können. Offenbar hatten alle Portalgründer der letzten Zeit den Eindruck, dass die Medien, für die sie bislang gearbeitet hatten, die Aufgabe der „vierten Macht im Staate“ nicht genügend wahrnahmen.

Was sie eint: Sie alle wollen die Regierung kontrollieren. Nur die Schwerpunkte sind etwas anders gelagert. Oko.pl heißt salopp „Wir haben ein Auge auf euch“ und ist die Kurzform von „Zentrum der zivilgesellschaftlichen Kontrolle“, die Seite hat sich vor allem dem Faktencheck von Politikeraussagen verschrieben.

Mediumpubliczne.pl interessiert sich mehr für gesellschaftliche Themen, Diskriminierung von Minderheiten, Aktivitäten von NGOs und Umweltfragen. Koduj24.pl ist das Portal der außerparlamentarischen Oppositionsbewegung Komitee zur Verteidigung der Demokratie, kurz KOD, und damit am politischsten – die Polemiken stehen den oft giftigen Tiraden der Regierungspolitiker in nichts nach.

Die Orientierung verloren

Natemat.pl ist das bislang schnellste Portal mit einem hohen Ausstoß an Texten. Allerdings merkt man vielen Artikeln an, dass ein kommer­ziel­les Interesse dahinter steht. Neben ausgezeichneten Texten stehen nicht fertig recherchierte. Ärgerlich ist auch, dass es nur ungefähre Zeitangaben gibt. Wenn ein Artikel „vor langer Zeit“ erschienen ist, heißt das: vor einem Monat? Vor zwei Jahren?

Sehr präzise hingegen ist oko.press. Es prüft seit Mitte Juni täglich die Aussagen der Politiker auf „wahr oder falsch“, baut ein „Zitatearchiv“ auf und gleicht Wahlversprechen mit der aktuellen Politik ab.

Da die PiS im Parlament die absolute Mehrheit hat, glaubt sie, keinerlei Rücksicht auf die Opposition nehmen zu müssen, stimmt häufig in Nachsitzungen über wichtige Gesetze ab und reißt immer mehr Macht an sich. Mit insgesamt fünf Gesetzen attackierte die Partei bislang das Verfassungsgericht, so dass die EU sich gezwungen sah, ein Rechtsstaatsverfahren gegen den Mitgliedstaat Polen einzuleiten. Ziel ist es, das Verfassungsgericht mit Gesetzen zu seiner Arbeitsweise so zu blockieren, dass es auf Jahre hin unfähig sein wird, aktuelle Gesetze als verfassungswidrig abzulehnen.

In den Staatsmedien werden die Verfassungsrichter und insbesondere der Vorsitzende des Verfassungsgerichts seit Monaten diffamiert, so dass viele Polen die Orientierung verloren haben. Oko.press versucht, in das bewusst herbeigeführte Informationschaos wieder Ord­nung zu bringen. Aus diesem Grund sind auch Online-nachschlagewerke im Aufbau – zu politischen Schlagworten der PiS einerseits und zum politischen ABC eines demokratischen Rechtsstaats andererseits.

Mitdenken und diskutieren

Für mediumpubliczne.pl stehen die Werte im Vordergrund, denen sich Polens Gesellschaft verpflichtet fühlt: Was heißt eigentlich „Patriotismus“? Sind Multikulti und Terror zwei Seiten einer Medaille? Will Polen tatsächlich ein katholischer Ein-Nationen-Staat sein? Das Portal lädt mit Internet-Radiosendungen zum Mitdenken und Diskutieren ein, schließt sich zivilgesellschaftlichen Kampagnen an und initiiert eigene, um dem von der Partei gewollten Gefühlschaos entgegenzuwirken.

Es ist nämlich keineswegs so, dass nur die Partei und der PiS-Parteivorsitzende wissen, was richtig und schlecht, wer gut und böse ist. Die Botschaft der Medienportale ist: Jeder kann das selbst herausfinden – mit ein bisschen Engagement.

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