Joe Biden küsst ungefragt Parteikollegin: Er hätte sich entschuldigen können

Eine Politikerin aus der eigenen Partei, Lucy Flores, wirft Joe Biden zudringliches Verhalten vor. Biden reagiert reflexhaft defensiv. Schade.

Der ehemalige US-Vizepräsident Joe Biden steht an einem Redepult und hält den Zeigefinder hoch.

„Nicht ein einziges Mal – nie – habe ich gedacht, unangemessen zu handeln“, sagt Joe Biden Foto: ap

Liebe Lucy Flores, ich möchte mich bei Ihnen entschuldigen. Sie sagen, dass ich mich Ihnen bei einer Wahlkampfveranstaltung von hinten genähert, an Ihren Haaren gerochen und Sie auf den Hinterkopf geküsst habe. Sie schreiben, Sie hätten sich gedemütigt, beschämt und durcheinander gefühlt. Wenn ich mir vorstelle, wie sich das für Sie anfühlen muss; es tut mir wirklich sehr leid.

Ich erinnere mich daran nicht. Was nicht heißt, dass ich Ihre Vorwürfe zurückweise. Ich kann nur einfach nicht sagen, dass das wirklich passiert ist. Letzteres hat aber sehr wahrscheinlich mit meiner eigenen Wahrnehmung zu tun. Meine Prägung in einer sexistischen Gesellschaft und mein jahrzehntelanges Verhalten als mächtiger Politiker haben meine Antennen für sexistische Übergriffe sicher verkümmern lassen. Wenn ich die Bilder sehe, die jetzt in Zusammenschnitten überall gezeigt werden, und ich daran denke, wie Sie Ihre Gefühle beschreiben, dann wird mir ganz schlecht vor Scham.

Auf der Grundlage kann ich mir vorstellen, dass Sie keine Neigung verspüren, mit mir zu sprechen. Ich würde mich aber freuen, wenn Sie meine Entschuldigung annehmen könnten.

Ihr Joe Biden.

„Nicht ein einziges Mal“

Es wäre schön, wenn es so wäre. Nur leider hat Joe Biden diesen Entschuldigungsbrief nicht geschrieben. Er hat keine Worte dafür gefunden, die Last der Erinnerung von den Schultern einer Frau zu nehmen, hat es vorgezogen, sich nicht den Folgen seiner Machtanmaßung zu stellen. Stattdessen hat der frühere US-Vizepräsident zuallererst das getan, was fast alle tun: „Ich war’s nicht“ gerufen.

„Nicht ein einziges Mal – nie – habe ich gedacht, unangemessen zu handeln“, sagte Biden, nachdem ihn die Parteifreundin aus Nevada, Lucy Flores, in einem Essay im New York Magazine jetzt des Übergriffs beschuldigt hatte. Die kursierenden Videozusammenschnitte von Szenen mit Joe Biden indes, in denen er zum Beispiel von hinten an eine Frau herantritt, er einer anderen an den Haaren riecht oder der dritten einen Kuss auf den Hinterkopf gibt, machen die exakte Beweisführung der Flores-Vorwürfe obsolet.

Biden ist ein, wie er es selbst nennt, „taktiler Politiker“. Er ist charmant, küsst, umarmt

Das muss auch Biden oder jemandem aus seinem Beraterinnenstab aufgefallen sein. „Wenn gesagt wird, ich habe mich so verhalten, dann werde ich respektvoll zuhören. Aber es war nie meine Intention“, schob Biden seiner ersten Ich-war’s-nicht-Erklärung hinterher.

Joe Biden hat diese Chance verpasst

Worum geht es hier? Biden ist ein, wie er es selbst nennt, „taktiler Politiker“. Er ist charmant, küsst, umarmt – und tritt dabei zu oft zu nahe. Das kann Wut und Ängste auslösen, auch nach Jahren. Aber er hat die demokratische Politikerin nicht vergewaltigt. Und sein Verhalten ist in einem sozialen Kontext eher Regel als Ausnahme.

Nur im Wünsch-dir-was-Land hätte Biden die Chance erkannt, die darin liegt, ehrlich mit solchen Fehlern umzugehen. Mit Fehlern, die nicht zwingend vernichtend sein müssen. Es wäre die richtige Zeit, die Grenze der Zuwendung durch mächtige Männer zu definieren, aber auch den Unterschied zwischen einem tätlichen Übergriff und einer übergriffigen Machtsituation zu setzen. Er hätte schreiben können:

Ich bin sicher, dass ich mich in meiner Karriere als einflussreicher Mann vielfach sexistisch verhalten habe. In meiner langen Laufbahn, es kann eigentlich gar nicht anders sein, muss ich mich auch anderen Frauen viel zu sehr genähert haben. Ich war ganz gewiss in Situation zudringlich, an die ich mich nicht einmal erinnere. Ich habe nicht verstanden, wie verängstigend, verletzend oder verstörend mein Verhalten sein kann. Für all das bin ich und nur ich verantwortlich.

Auch wenn das meine Verantwortung nicht schmälert, ist es wichtig zu sagen, dass ich auch ein Produkt der Zeit bin, in der ich aufwuchs. Die Zeiten haben sich geändert. Das hat #MeToo nicht alleine bewerkstelligt. Die Gesellschaft hat #MeToo möglich gemacht. Heute bin ich in der Lage zu verstehen. Heute können sich diejenigen, die verletzt wurden, äußern. Dieser Prozess muss weitergehen. Damit ich niemanden mehr verletze und damit nicht unzählige Frauen und zweifellos auch Männer verletzt werden.“

Diese Chance aber hat Joe Biden verpasst.

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