Joan Didion neu übersetzt: Der Essay als Lebensform

Hier kennt man ihr letztes Buch "Das Jahr magischen Denkens". Richtig gut sind allerdings Joan Didions Essays - durch und durch ironisch, trotzem nie ohne Standpunkt.

Joan Didion hat die Essays, die der Claassen Verlag jetzt in neuer Übersetzung herausgibt, vor über 35 Jahren in ihrem Kinderzimmer in Sacramento geschrieben. Hierhin, in das Haus ihrer Eltern, kehrte Didion, die damals mit ihrem Mann in Los Angeles wohnte, zum Schreiben zurück. Die Wände des Zimmers sind rosa gestrichen, Bougainvillea und Efeu überwuchern die Fenster, notierte die heute legendäre Literaturkritikerin der New York Times, Michiko Kakutani, 1979 in ihrer Besprechung.

Auf dem Frisiertisch in Joan Didions Mädchenzimmer, berichtete Kakutani, steht eine gerahmte Ansicht der Sierra Nevada. Ein Siedlertrupp aus Illinois überquerte das Hochgebirge Mitte des 19. Jahrhunderts auf dem Weg nach Westen, Richtung Kalifornien. Der Treck wurde am Donnerpass von einem Schneesturm eingeschlossen. Mehr als die Hälfte der Siedler starben. Als die Vorräte aufgebraucht waren, verzehrten sie die sterblichen Überreste derer, die erfroren waren.

Didions Urururgroßmutter hatte sich dem Treck angeschlossen, doch beim Humboldt River verließ sie ihn wieder, um mit ein paar anderen Siedlern hinauf Richtung Norden zu ziehen.

Didion hob das Foto der Sierra Nevada auf, weil das Unglück vom Donnerpass sie verfolgte. Die Geschichte erzählt, was Didion wieder und wieder erzählen wird: die Geschichte Amerikas, deren Schauplatz die extreme Landschaft des Kontinents ist, eine Geschichte, die von Gewalt und Angst, von Mut und vom Aufbruch handelt. Womit ein wesentliches Merkmal ihres Schreibens genannt ist: ihre radikale Ambivalenz.

Joan Didion hat fünf Romane veröffentlicht, außerdem schmale Bücher, die von den politischen Verhältnissen in Lateinamerika und Südostasien erzählen sowie von tablettenabhängigen Schauspielerinnen in Hollywood. Sie hat gemeinsam mit ihrem Mann, dem Schriftsteller John Gregory Dunne, Drehbücher verfasst, weshalb sie so viel über Hollywood weiß, dessen komplexes soziales Regelwerk sie studiert hat, um festzustellen, dass außerhalb von Hollywood ganz ähnliche Regeln gelten. Ihren ersten Job hatte Didion, da war sie Mitte 20, in den Fünfzigerjahren bei der Vogue in New York, in einer Zeit, in der Sylvia Plath für die Mademoiselle schrieb und Modemagazine sich selbst noch ernst nahmen. Sie hat lange für Life geschrieben, und einige der Texte aus dem vorliegenden Band, über Doris Lessing, John Wayne und Howard Hughes, sind für Zeitschriften entstanden.

In den USA ist Joan Didion eine große Autorin, eine vielbeachtete Person, die mit Preisen ausgezeichnet wurde. Es gibt viele Artikel und Interviews in den Zeitungen und Magazinen, sie ist im Radio zu hören und tritt im Fernsehen auf. Hier kennen sie nur wenige. Ihr letztes Buch, "Das Jahr magischen Denkens", erzählt vom Tod ihres Mannes, mit dem sie fast 40 Jahre lang verheiratet war, und wurde auch hier von einem größeren Publikum wahrgenommen. Sonst aber gibt es wenig: kurze Erwähnungen, zehn Jahre alte Interviews irgendwo im Internet. Ihre Essays, "Das weiße Album" und "Die Stunde der Bestie", von denen Antje Rávic Strubel jetzt eine Auswahl klug und behutsam neu übersetzt hat, waren hier lange vergriffen.

Natürlich liegt dem amerikanischen Leser die amerikanische Geschichte näher als dem deutschen. Aber sonst sind wir ja auch an allem interessiert, was aus den USA kommt. Joan Didion dagegen - eine so zarte Person, dass jeder Journalist, der einmal vor ihr saß, darüber fast erschrickt - übersehen wir. Denn was Didion zu einer großen Autorin macht, sind ihre Essays: eine Form, die uns fremd bleibt.

Eine Form, die in der deutschen Literaturgeschichte nicht viele Gewährsleute hat. Adorno und Hans Magnus Enzensberger beklagten sich darüber schon in ihren literaturkritischen Essays, die sie zu den wenigen deutschsprachigen Vertretern dieser Gattung machten. Immer wieder haben hier einzelne Autoren Essays geschrieben, Thomas Mann, W. G. Sebald natürlich, Stephan Wackwitz, um einen Jüngeren zu nennen - doch eine dichte Tradition wie im angelsächsischen Raum gibt es nicht. Wir haben nicht viel Übung mit dieser Art des Schreibens, die weder Fisch noch Fleisch ist. Der Verlag weiß nicht, ob er den Essay in der Sachbuch- oder Belletristik-Vorschau ankündigt, der Buchhändler weiß nicht, in welches Regal er ihn stellt; und die Kritiker, die Texte in die Schubladen ihrer geistigen Hängeregistraturschränke einordnen wollen, können mit dem essayistischen Ich nichts anfangen, das von sich selbst erzählt, aber offenbar doch etwas Exemplarisches meint. Dieses Ich, das sich selbst zu überschätzen scheint, ist bei Didion immer die Hauptfigur.

"Egal, wie pflichtbewusst wir niederschreiben, was wir um uns herum beobachten", sagt sie in ihrem Aufsatz "Vom Sinn, ein Notizbuch zu besitzen", "der gemeinsame Nenner ist immer, unverhüllt und schamlos, das unerbittliche Ich."

Wir können ja ohnehin nicht unterscheiden zwischen Wirklichkeit und unserer eigenen Sicht auf Wirklichkeit. "Wir interpretieren, was wir sehen. Wir leben von den ,Ideen', mit denen wir gelernt haben, die wechselnden Phantasmagorien einzufrieren, die unsere eigentliche Erfahrung sind."

Für Didion ist jede Einsicht eine subjektive, deshalb unterlässt sie es, ihre Ansichten als "objektive" zu maskieren. Sie stellt sich selbst in den Mittelpunkt ihrer Texte, um das Perspektivische ihres Denkens, allen Denkens, sichtbar zu machen.

Ihre frühen Texte hat sie in einem so persönlichen, fast intimen Ton geschrieben, dass er viele verwirrte.

"1969: Ich sitze in einem Zimmer mit hoher Decke im Royal Hawaiian Hotel in Honolulu und versuche mein Leben neu zusammenzusetzen. Mein Mann ist hier und unsere Tochter, drei Jahre alt. Wir sind hier, auf dieser Insel inmitten des Pazifischen Ozeans, anstatt unsere Scheidung einzureichen."

Ob er gewusst habe, dass sie das schreibt, sei ihr Mann oft gefragt worden, wie Didion Jahre später notiert.

Er hat es redigiert.

Er sei mit der Tochter in den Zoo von Honolulu gegangen, damit Didion daran arbeiten konnte.

Denn sie hat ja nicht ihre geheimen Tagebuchaufzeichnungen veröffentlicht, sondern sich für eine Form, eine Erzählperspektive entschieden: für die beschränkte Perspektive eines mehr als unzuverlässigen Ich-Erzählers, der Psychopharmaka nimmt, "schlechte Nerven" und eben Eheprobleme hat.

Das macht Didions Texte zu dem, was sie sind: ihre Erzählform ist eine Welthaltung, eine durch und durch ironische, die den Mut hat zur Ambiguität und zum Zweifel am Gesagten. Nie sprechen ihre Texte von Wirklichkeit als Tatsache, sie legen die Willkür und Widersprüchlichkeit ihres eigenen Verfahrens offen. (Das Unglück vom Donnerpass übrigens diente Frank Schirrmacher als Aufhänger für sein 2006 erschienenes Buch "Minimum". Er leitete aus den Verwandtschaftsverhältnissen der verunglückten Siedler eine These ab, die man als bedenkenlose Aufforderung an die Frauen in Deutschland verstehen konnte, möglichst viele Kinder auf die Welt zu bringen, egal um welchen Preis. Ein anschauliches Beispiel dafür, dass wir die Geschichten, die wir hören, unterschiedlich deuten, und man kann sich jetzt spaßeshalber einmal vorstellen, Frank Schirrmacher hätte seine Ideen über Männer und Frauen und ihre Rolle in der Gesellschaft aus der Ich-Perspektive formuliert.)

Didion gelingt es, aus dieser ironischen Haltung dennoch einen Standpunkt zu entwickeln. Dennoch muss man nur deshalb sagen, weil das Talent zur Ironie und das zum politischen Denken ja oft als Gegensatz begriffen werden, so dass in der Folge schon bloße Ironiefreiheit als politische Überzeugung durchgeht. Weil das so ist, schreibt Didion vor allem über die Milieus, die glauben, ohne Ironie auszukommen (die amerikanische Innenpolitik ist ein Beispiel, die Frauenbewegung ein anderes).

Der Tod der Ironie wurde ausgerufen, notiert sie nach dem 11. September 2001, als wir sie vielleicht am bittersten nötig gehabt hätten.

"Style is character", hat Didion gesagt, denn für sie ist Ironie keine Form, die einen Inhalt vermittelt, sondern bereits die politische Idee: die liberale Idee im altmodischen Sinne, die mit der heutigen FDP wenig zu tun hat, die das "gute" Amerika ausmacht, die eigenständiges Denken bedeutet, das Nebeneinander vieler Meinungen, die Verwirklichung eines echten Pluralismus, den eigentlichen amerikanischen Traum.

In den USA halten Autoren der jüngeren Generation die Tradition des Essays lebendig, entwickeln sie weiter, indem sie mit der Form experimentieren und um immer neue Themen bereichern. Das allgemeine Interesse an der Non-Fiction und ihren unterschiedlichen Formen ist dort größer als hier.

Und für viele dieser jungen Autoren waren Didions Texte prägend. A. M. Homes, deren bemerkenswertes Buch "Die Tochter der Geliebten" über ihre Adoptionsgeschichte dieses Jahr im September bei Kiepenheuer & Witsch erscheint, sagt zum Beispiel: "Ich verehre Joan Didion." Dave Eggers gehört zu Didions Bewunderern. Er wurde bekannt durch sein halbfiktives Memoir "Ein herzzerreißendes Werk von umwerfender Genialität", das vom Tod seiner Eltern und den darauf folgenden Jahre erzählt, in denen er seinen jüngeren Bruder großzieht. Und Sloane Crosley, geboren 1978, hat soeben 15 kurzweilige, kluge Essays über das Leben in New York und das Leben in der Gegenwart unter dem Titel "I was told thered be cake" veröffentlicht.

Aber auch in den USA haben Autoren es mit ihren Essays manchmal nicht leicht. Wer sich für diese Textform entscheidet, riskiert, missverstanden zu werden. In einem Aufsatz aus dem Band "Die Unruhezone" erzählt Jonathan Franzen in bester essayistischer Manier parallel von seiner Ehekrise, dem Klimawandel und seiner Liebe für das Vögelbeobachten. Michiko Kakutani schrieb dazu in der New York Times: "Es bleibt Franzens Geheimnis, warum jemand ein derartiges Interesse an seiner unglücklichen Ehe, an seiner selbstgefälligen und selbstbezüglichen Gedankenwelt haben sollte, dass er darüber seitenlange Ausführungen lesen möchte."

Franzen, in Harvard zu einer Diskussionsrunde eingeladen, antwortete mit einer Unbekümmertheit, die der wahre Luxus erfolgreicher Autoren ist: Michiko Kakutani sei "die dümmste Person in New York City".

Joan Didion: "Wir erzählen uns Geschichten, um zu leben". Aus dem Englischen von Antje Rávic Strubel. Claassen Verlag, Berlin 2008, 304 Seiten, 22,90 Euro.

Von Elisabeth Raether erschien kürzlich (zusammen mit Jana Hensel): "Neue Deutsche Mädchen", Rowohlt Verlag

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