Jahrestag Massaker in Syrien: Das Trauma bleibt

Vor 30 Jahren tötete das Regime Assads in der Stadt Hama 20.000 Menschen. Heute tötet das Regime erneut – aber der Aufstand ist ein anderer als damals.

Die Facebook-Seite "Hama" zeigt Fotos von Menschen, die 1982 in der zentralsyrischen Stadt Hama getötet wurden. Bild: afp

Der Februar ist in Syrien ein blutiger Monat. Damals wie heute. Im Februar 1982 legen Regierungstruppen weite Teile der Stadt Hama in Schutt und Asche, jetzt stehen Wohngebiete in der Stadt Homs unter anhaltendem Raketenbeschuss.

Doch während über das Blutvergießen in Hama 1982 nur sporadisch Nachrichten nach außen drangen, ist die Welt heute Zeuge der Gewalt in Syrien. Die Bilder von Raketenangriffen, Schwerverletzten und Beerdigungszügen erreichen die Öffentlichkeit fast in Echtzeit. Aus verwackelten Videoclips sind professionelle Beweisaufnahmen geworden.

In einer deutschen Kleinstadt sitzt Anas vor dem Computer. Der 45-Jährige schaut sich die Videos von sterbenden Kindern und zerfetzten Körpern im Internet an. Die Miene des Syrers ist starr. Erinnerungen werden wach an das, was in seiner Heimatstadt Hama vor 30 Jahren geschah. Anas heißt in Wirklichkeit anders. Um seine Familie nicht zu gefährden, will er anonym bleiben. Sein Vater lebt heute noch in Hama, der Bruder und einige Cousinen wohnen in Vororten von Damaskus.

Etwa 75 Prozent der Syrer sind sunnitische Muslime, daneben gibt es 10 Prozent Christen und zwei Prozent Drusen. Zur Minderheit der schiitischen Alawiten zählen 12 Prozent, darunter die Familie von Präsident Baschar al-Assad. Jahrhundertelang lebten die Alawiten benachteiligt im Küstenhinterland, durch die Machtübernahme von Hafis al-Assad - des Vaters des heutigen Präsidenten - 1970 begann ihr gesellschaftlicher Aufstieg. Heute besetzen die Alawiten Schlüsselpositionen in Militär und Geheimdiensten. Die Christen leben in relativem Wohlstand überwiegend in den beiden größten Städten des Landes Damaskus und Aleppo, die Sunniten in der zentralsyrischen Stadt Hama gelten als besonders konservativ. Auf die Unabhängigkeit von Frankreich im Jahr 1946 folgte eine Zeit politischer Instabilität. Bis 1970 erlebten die Syrer 14 Präsidenten, oft vergingen nur Monate bis zum nächsten Putsch. Seit 1963 regiert die Baathpartei mit ihrer ideologischen Mischung aus Sozialismus und arabischem Nationalismus. (hel)

Mehr als die Hälfte seines Lebens hat Anas in Deutschland verbracht. Er ist Manager in der Automobilindustrie, ein feingliedriger Mann mit intellektueller Metallbrille. Wenn seine Verwandten ihm über Skype von Panzern, Massenverhaftungen und Leichen auf den Straßen erzählen, muss Anas an damals denken. Im Jahr 1982 war es ein großes Massaker, heute seien es verschiedenenorts viele kleine Massaker, sagt Anas. Und doch gibt es einen wichtigen Unterschied: die Vorgeschichte.

Zeit der Spannungen

Die 1970er Jahre sind in Syrien eine Zeit gesellschaftlicher Spannungen. Seit der Machtübernahme der Baathpartei im Jahr 1963 verlieren die städtischen Eliten an Einfluss, während die arme Landbevölkerung gezielt gefördert wird. Als sich Verteidigungsminister Hafis al-Assad 1970 unblutig an die Macht putscht, hat es zum ersten Mal ein Vertreter der Unterschicht an die Spitze des Staates geschafft. Assad gehört zu den traditionell benachteiligten Alawiten und hat den für ihn einzigen Weg des politischen Aufstiegs genommen: eine Karriere im Militär.

Assad will die Ideologie der Baathpartei nutzen, um Syrien zu einer selbstbewussten Nation zu machen. Doch die Partei verrät bald ihre Ideale. Im Laufe der 1970er Jahre entsteht ein Netz aus Korruption und Vetternwirtschaft. Regimevertreter bereichern sich schamlos. Der Unmut wächst. Das Bürgertum büßt politischen Einfluss ein, alteingesessene Händler kämpfen mit neureichen Emporkömmlingen und religiöse Autoritäten versinken angesichts des dominanten säkularen Klimas in der Bedeutungslosigkeit.

Dieser Frust bildet den Nährboden für die islamische Opposition. Die Partei der Muslimbrüder gibt den konservativen Sunniten eine Stimme und gewinnt vor allem in Aleppo und Hama Anhänger. In Damaskus dagegen gelingt es Assad, den Einfluss der Muslimbrüder zu begrenzen, indem er wichtige sunnitische Gesellschaftskreise wirtschaftlich an sich bindet. Dieses enge Verhältnis besteht bis heute.

Anas erlebt den Aufstieg der Muslimbrüder als Jugendlicher mit. Und er beobachtet, wie in Hama aus wirtschaftlichen Abhängigkeiten konfessioneller Hass entsteht. „Die Landbewohner um die Stadt waren Alawiten, die den sunnitischen Städtern gedient haben“, erinnert sich Anas. Das hätten sie ihnen bis heute nicht verziehen, meint er.

Aufstieg der Alawiten

Mit Assads Machtübernahme beginnt der Aufstieg der Alawiten. Viele verlassen das bergige Hinterland der Mittelmeerküste, wo sie über Jahrhunderte Schutz vor Verfolgung gesucht haben, und gehen in die Städte. Dort finden sie Anstellung in der öffentlichen Verwaltung, in den Geheimdiensten und im Militär – bis heute sind Alawiten in den staatlichen Sicherheitskräften überproportional vertreten.

Die neue Machtkonstellation lässt aus Opfern Täter werden. Minderwertigkeitskomplexe und Rachegefühle treiben die alawitischen Geheimdienstmitarbeiter an, wenn sie die meist gut ausgebildeten Islamisten zu fassen kriegen, meint Anas. Bei der Erinnerung an den geschundenen Rücken und die herausgerissenen Fingernägel seines Cousins, der 1979 inhaftiert wird, durchzucke ihn heute noch ein kalter Schauer, sagt er.

Gleich mehrere von Anas’ älteren Cousins schließen sich der Tali’a al-Muqatila an, der „kämpfenden Vorhut“ der Muslimbrüder. Mit gezielten Attentaten auf Regierungsvertreter und Bombenanschlägen auf öffentliche Gebäude und Militäreinrichtungen fordern die radikalen Islamisten das Baath-Regime heraus. Präsident Assad schlägt brutal zurück. Unmittelbar nach einem Mordanschlag, den er im Juni 1980 knapp überlebt, stellt er die Mitgliedschaft bei den Muslimbrüdern per Dekret unter Todesstrafe. Hunderte Inhaftierter werden in ihren Gefängniszellen massakriert, in Aleppo und Hama werden Männer und Jungen über 14 Jahre willkürlich zusammengetrieben und kurzerhand erschossen. Der Freibrief zum Töten gilt bis heute.

Im Jahr 1982 steuert alles auf offenen Krieg zu. Er beginnt in den frühen Morgenstunden des 2. Februars, als eine Armeeeinheit in der Altstadt von Hama Verstecke der Muslimbrüder angreift. Hunderte Kämpfer schlagen die Soldaten in die Flucht, erstürmen Regierungsgebäude, töten führende Parteifunktionäre und erklären Hama am Vormittag des 2. Februar für befreit.

Drei Wochen Albtraum

Ein Schock für das Regime in Damaskus. Es rüstet sich für die entscheidende Schlacht gegen die Islamisten. Für Assad geht es nicht mehr darum, sie zu besiegen, sondern sie zu vernichten. Was folgt, ist ein dreiwöchiger Albtraum. Das Syrische Menschenrechtskomitee, eine offiziell verbotene Nichtregierungsorganisation, hat das Massaker von Hama mit Hilfe von Augenzeugen dokumentiert. Ganze Familien werden in ihren Häusern getötet, Männer von Erschießungskommandos auf offener Straße hingerichtet. Auch Frauen und Kinder bleiben nicht verschont.

Die Augenzeugenberichte decken sich mit dem, was Anas von seinen Verwandten gehört hat. Ihm selbst gelingt gleich zu Beginn des Massakers die Flucht. Er ist der einzige Mann im wehrfähigen Alter aus seiner Familie, der Hama lebend verlässt. Die Cousinen und Tanten, die bleiben und überleben, sind nachhaltig traumatisiert.

„Eine meiner Cousinen hatte sich mit ihrer Mutter und anderen Leuten im Keller versteckt“, erzählt Anas. Soldaten hätten den Raum gestürmt und alle erschossen. Seine Cousine und der Säugling ihrer Nachbarin waren die einzigen Überlebenden. „Wenn sich noch jemand bewegte, haben die Soldaten noch mal geschossen. Dann haben sie Uhren und Schmuck geklaut und sind abgehauen.“ Seine Cousine habe nur überlebt, weil sie unter ihrer toten Mutter gelegen habe.

Anas’ Stimme bricht, für einen Moment verliert er die Fassung. Zum ersten Mal spricht er über das, was damals geschah. Erst jetzt, wenn er sich die Videos der heutigen syrischen Aktivisten im Internet ansieht, tauchen die Bilder von damals unweigerlich wieder auf.

Mantel des Schweigens

Ende Februar 1982 liegt ein Großteil von Hama in Trümmern. Menschenrechtsorganisationen schätzen, dass etwa 20.000 Menschen starben. Zehntausende werden verhaftet oder gelten als verschwunden, viele kehren nie zurück. Hama wird zum Trauma einer Nation. Und zum Tabu. Die Stadt selbst wird in kürzester Zeit wieder aufgebaut, die Spuren werden beseitigt. Über die gesellschaftlichen Narben legt sich ein Mantel des kollektiven Schweigens.

Assads Regime macht bis heute die Muslimbrüder für die Gewalt verantwortlich. Ihre Partei wurde faktisch ausgelöscht, aktive Mitglieder wurden getötet, Anhänger verhaftet. Wer der Verfolgung entkommt, flieht ins Ausland. Dort entwickeln sich verschiedene Strömungen, die von politischen Führern im Exil geprägt werden.

Weder damals noch heute geben die syrischen Muslimbrüder ein einheitliches Bild ab. Ihr Vorsitzender, Mohammed Riad al-Schaqfa, lebt in der Türkei, wo sich die syrische Auslandsopposition seit Monaten formiert. Innerhalb des syrischen Nationalrats, des wichtigsten Oppositionsbündnisses außerhalb Syriens, stellen die Muslimbrüder die größte Fraktion, manchen ist ihr Einfluss schon jetzt zu dominant.

Vor allem die Minderheiten im Land – Christen, Alawiten und Drusen – fürchten sich im Falle eines Regimewechsels vor einer islamischen Agenda der sunnitischen Mehrheit. Generalsekretär Schaqfa bemüht sich, diese Befürchtungen zu zerstreuen. Er sagt Sätze wie „man kann die Scharia niemandem aufzwingen“ und „wir als Muslimbrüder werden die Rechte der Minderheiten verteidigen“.

Propaganda und Realität

Anas bleibt skeptisch. Er vermisst bei den Muslimbrüdern eine ehrliche, kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit. Parteichef Schaqfa, seit den 1970er Jahren im Ausland, distanziert sich heute vom Terror. Er behauptet, die früheren Anschläge seien von eigenständigen Zellen durchgeführt worden, die offiziell nicht zu den Muslimbrüdern gehörten. Für Anas ein Versuch, sich aus der Verantwortung zu stehlen.

Doch die Muslimbrüder haben gerade andere Sorgen, schließlich werden sie auch in der aktuellen Krise für die Gewalt verantwortlich gemacht. 30 Jahre nach Hama bedient sich Präsident Baschar al-Assad derselben Rhetorik wie sein Vater und beschwört die „islamistische Gefahr“: Vom Ausland gesteuerte Terrorgruppen wollten Syrien zerstören. Doch im Gegensatz zu damals geht die Propaganda heute an der Realität vorbei.

Nicht bewaffnete Terroristen, sondern friedliche Demonstranten, die mittlerweile von Deserteuren unterstützt werden, fordern das Regime seit fast einem Jahr heraus. Während damals eine radikale sunnitische Minderheit ein islamisches Staatswesen wollte, fordern heute Syrer aller Religionen und sozialen Schichten Freiheit und Demokratie. Kurz: Vor 30 Jahren bekämpfte eine islamische Partei ein säkulares Regime, heute befreit sich das syrische Volk von einer Diktatur.

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