Interview Prävention von Missbrauch: „Wir waren fassungslos“

Seit 1987 arbeitet Strohhalm e.V. zur Prävention von sexuellem Missbrauch. Seitdem hat sich viel getan, sagt Mitgründerin Dagmar Riedel-Breidenstein.

Kinder und Jugendliche spielen Tischtennis

Mit Tischtennis lockten Pädosexuelle die Jungen an. (Symbolfoto) Foto: Bundesarchiv, Bild 183-W0224-0007 / Kaufhold, Reinhard / CC-BY-SA

taz: Frau Riedel-Breidenstein, letzte Woche stellten die Berliner Grünen einen Bericht über pädosexuelle Umtriebe in ihren Reihen vor. Nach der Lektüre konnte man den Eindruck gewinnen, ganz Berlin-Kreuzberg sei von einem Netz pädosexueller Täter durchwirkt gewesen. Sie waren damals Mitglied der Kreuzberger Frauengruppe der Alternativen Liste (AL). Wie haben Sie die Zustände wahrgenommen?

Dagmar Riedel-Breidenstein: Sexuelle Gewalt an Mädchen war Mitte der Achtziger ein großes Thema in der Frauenszene. Wir Kreuzberger Frauen wollten wissen, ob es so etwas auch in unserem Bezirk gibt und was wir dagegen politisch tun können. Also nahmen wir im Winter 1985 Kontakt zu Frauke H. auf, die als Sozialarbeiterin beim Gesundheitsamt am Kottbusser Tor arbeitete. Bei dem, was sie uns erzählte, blieb uns der Spekulatius im Halse stecken. Wir waren fassungslos.

Was schockierte Sie so?

Frauke bekam Kinder, die auffällig waren, vorgeführt. Bei Mädchen fand der Missbrauch fast ausschließlich im privaten Bereich, in der Familie statt. Aber sie erfuhr eben auch von groß angelegten Ermittlungen der Polizei und Prozessen: Die Beamten suchten in den Grundschulen nach Kindern, die in einem konfiszierten Pornoalbum abgebildet waren. Es handelte sich bei den Opfern ausschließlich um Jungs, die den pädosexuellen Tätern in Jugendfreizeiteinrichtungen, auf Spielplätzen und in sogenannten offenen Wohnungen begegnet waren. Die Schulen waren damit völlig überfordert. Und wir zunächst auch.

Die 63-Jährige ist Mitgründerin des Vereins Strohhalm und seit zwei Monaten in Rente.

Ihnen war die ganze Thematik neu?

Absolut. Wir kannten Pädosexualität (damals noch Pädophilie genannt) nur aus theoretischen Diskussionen. Dass es in Berlin, in der Cuvrystraße, eine Meldeadresse gab, wo sich Pädosexuelle einquartierten, dass es Spielplätze gab, die als Kontaktbörsen fungierten, von dieser organisierten Seite wussten wir nichts. Der Falckensteinkeller etwa, von dem Frauke erzählte: Ein Souterrain mit Tischtennisplatte und Cola-Automat, in dem sich Jungen zwischen neun und 13 Jahren nach der Schule aufhalten konnten. Sie mussten eben nur einen Preis dafür zahlen. Dass es diesen Laden gab, hatte man ja sehen können. Als wir davon erfuhren, liefen bereits die Ermittlungen. Und es stellte sich heraus, dass es AL-Mitglieder waren, die zu den Beteibern gehörten und dort auch Jungen missbrauchten. Wir fanden das grässlich und wollten, dass es aufhört.

Strohhalm e.V. wurde 1987 als eingetragener Verein von Mitarbeiterinnen aus dem pädagogischen und sozialen Bereich gegründet. Er versteht sich als Fachstelle für Prävention von sexuellem Missbrauch an Mädchen und Jungen. Seit 2008 bietet Strohhalm im Rahmen des Projekts „Heroes" Gruppen für junge Männer mit Migrationshintergrund an, die ein Vorbild für all diejenigen sein wollen, die mit Themen wie Gleichberechtigung, Kultur und Menschenrechten Probleme haben.

Website: Strohhalm e.V.

Suchten Sie die Auseinandersetzung in der Partei?

Wir machten im Kreisverband Kreuzberg auf die Situation aufmerksam. Und gewannen auch die Zeitschrift Kreuzberger Stachel dafür, das Thema aufzugreifen, es erschienen dort mehrere Artikel. In grünen Kreuzberger Kreisen schlug das hohe Wellen.

Und über Kreuzberg hinaus?

Im größeren Parteizusammenhang interessierte das niemanden genauer, es gab andere Themen, die wichtiger waren. „Einvernehmliche Sexualität“ zwischen Kindern und Erwachsenen galt außerdem als neu entdeckter wichtiger Aspekt der sexuellen Selbstbestimmung. Als Opfer galten die Männer, die dafür bestraft wurden.

Es gab in der AL doch aber ganze Gremien, die der Diskussion um Sexualität großen Raum einräumten. Im Schwulenbereich gaben Pädo-Aktivisten den Ton an. Haben Sie dort die Auseinandersetzung gesucht?

Wir haben es versucht, aber vergebens. Diejenigen, die auch Täter waren, also Fred Karst und Dieter Ullmann, waren schwer greifbar: Sie waren ja andauernd im Knast und machten sich auch sonst rar im Parteileben. Wir haben viel diskutiert, beschlossen aber bald, uns nicht nur auf theoretische Diskussionen über „Einvernehmlichkeit“ einzulassen, sondern das Thema politisch und praktisch anzugehen. Und uns auf die Opfer zu konzentrieren.

Wie kamen Sie an das Wissen über die Kinder heran?

Unsere klare Positionierung verschaffte uns Kontakte, zum Beispiel gehörten wir auch bald zum Kreuzberger Bündnis gegen sexuelle Gewalt. Es handelte sich um Kinder, die viel Zeit auf der Straße verbrachten, aus dem unteren Arbeitermilieu. Kreuzberg war ein sozialer Brennpunkt. Wir suchten den Kontakt zu Lehrerinnen und Sozialarbeiterinnen an den Schulen. Und zu den kostenlosen pädagogischen Betreuungseinrichtungen für den Nachmittag, etwa im Bethanien am Berliner Mariannenplatz. Die kannten die Situation sehr gut. Wir informierten uns gegenseitig über die Ermittlungen der Polizei, über Täterstrukturen und Vorgehensweisen, boten Elternabende an.

Mit den Kindern redeten Sie nicht?

Damals war so etwas wie Präventionsarbeit mit Kindern noch undenkbar – solche Themen besprach man mit Erwachsenen. Man kann sich aus heutiger Sicht kaum vorstellen, wie stümperhaft damals der Umgang mit sexuellem Missbrauch war. Polizei und Staatsanwaltschaft ermittelten wenig sensibel und ohne großen Eifer. Kam es doch zu einer Verhandlung, dann befragte man einen Täter wie Fred Karst allen Ernstes, ob er denn glaube, dass die Jungen Schaden dadurch davon getragen hätten. Der sagte natürlich treuherzig, nein, das sei alles einvernehmlich und zärtlich gewesen. Man nahm den Missbrauch von Jungen nicht richtig ernst. Besonders unter den Schwulen wurde er häufig als sexuelle Initiation verbrämt, negative Folgen wurden weggedrückt. Wie wir heute wissen, war das überhaupt typisch für männliche Missbrauchsbetroffene.

Wie kam es dazu, dass Sie aus der AL-Frauenarbeit heraus den Präventionsverein Strohhalm gründeten?

1987 nahm ich mit ein paar anderen Frauen in Bielefeld an einem Seminar teil: Ein Pilotprojekt aus den USA stellte seine Arbeit mit Kindern vor: Workshops zur Stärkung des Selbstbewusstseins und zur Abwehr von Gewalt. Wir waren begeistert und wussten: Das braucht Kreuzberg auch! Die ersten Workshops machten wir für unsere eigenen Kinder und deren Freunde zu Hause. An Professionalisierung haben wir nicht gedacht. Aber die Resonanz war so positiv, dass wir das schließlich doch anstrebten, um den Bedarf zu decken. Wir gaben den Kindern in Rollenspielen Worte für ihren Körper und für ihre Rechte, informierten über gefährliche Situationen und Abwehrmöglichkeiten, schärften ihr Bewusstsein für Grenzverletzungen. Das alles erfuhren auch die Erwachsenen, die zu den Kindergruppen gehörten. Nach den Workshops boten wir vertrauliche Einzelsprechstunden an. In vielen Gruppen gab es betroffene Kinder, die wir zu Beratungsstellen vermittelten – oder gleich mit Unterstützung der Schulen oder Eltern Jugendamt oder die Polizei einschalteten.

Sie nahmen den Pädosexuellen, die bis dahin ungestört agieren konnten, Bewegungsspielraum. Gab es da keine Auseinandersetzungen?

Doch, es gab erbitterten Widerstand in Kreuzberg gegen viele, die zu diesen Themen arbeiteten und so öffentlich machten. Im Bezirk gab es ja viele im sozialen Bereich, die zu diesem Thema arbeiteten. In der Partei waren wir ziemlich allein. In einer Redaktionssitzung des Stachels erschien eine Gruppe Männer und bedrohte uns: Wenn wir nicht aufhörten mit unserer Arbeit, werde man es uns schon zeigen. Wir machten weiter – obwohl wir auch aus anderen Zusammenhängen massiv Kritik bekamen. Unsere Präventionsarbeit richtete sich an Mädchen und Jungen. Das passte vielen nicht, weil, so sahen es manche, die Jungen wieder unangemessen viel Aufmerksamkeit bekamen: Jetzt sollten die auch noch Opfer sein? Nach viel politischer und fachlicher Überzeugungsarbeit aber wurden wir ab 1991 vom Jugendsenat gefördert.

Der Verein Strohhalm gibt es bis heute. Wie hat sich die Arbeit mit den Kinder verändert im Vergleich zu den 1980ern?

Die Pädosexuellen haben sich weitgehend aus der Öffentlichkeit zurückgezogen. Sie agieren stärker im Privaten und im Internet. Sie sind auch nicht mehr unser einziger Fokus. Aber auch die andere Seite ist professioneller geworden: Pädagogen erkennen früher, wenn es einem Kind schlecht geht. Zwar ist Wissen über sexuellen Missbrauch immer noch nicht im Lehrplan oder der Pädagogenausbildung verankert – was immer unser Ziel war. Aber insbesondere die Polizeiarbeit hat sich enorm verbessert. Früher konnte man niemandem zur Anzeige raten, heute gibt es spezielle Dezernate mit geschultem Personal.

Wo liegt der Fokus Ihrer Arbeit jetzt?

Wir bieten stadtweit Präventionsprogramme in Familien, Grundschulen und Kitas an. Wir haben inzwischen auch ein eigenes Projekt „Heroes“, das sich um Missbrauchsrisiken in Einwandererkulturen kümmert. Wir schulen Jungen aus ehrenkulturellen Milieus als „peers“ aus, um bei ihren Altersgenossen klar zu machen, dass auch Unterdrückung im Namen der Ehre viel mit Gewalt zu tun hat. Außerdem stoßen wir vermeintliche Gewissheiten um wie: ‚Erwachsene haben immer Recht‘. Und leisten Aufklärungsarbeit, was das Kennenlernen des eigenen Körpers angeht. Wer seinen Körper kennt, tappt nicht so leicht in die Falle. Das leuchtet, nach anfänglichem Misstrauen, übrigens auch allen Eltern ein. Ein neuer Schwerpunkt des Vereins sind sexuelle Übergriffe unter Kindern, hier geht es um Opfer- und Täterprävention. Wenn Kinder schon frühzeitig lernen, nicht die Grenzen von anderen zu verletzen, werden sie später nicht so leicht zu Tätern.

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