Indischer Ökonom über Migration: „Wachstum und Demokratie helfen“

Migration aus ärmeren in reichere Länder wird es immer geben. Deshalb fordert der indische Ökonom Bhagwati einen Migrationsfonds – und Wachstum um jeden Preis.

Migranten aus Afrika auf dem gefährlichen Weg nach Europa. Bild: dpa

taz: Herr Bhagwati, über die Rahmenbedingungen von Migration wird in der breiten Öffentlichkeit immer nur nach tragischen Unglücken debattiert. Warum kommen wir hier nicht voran?

Jagdish Bhagwati: Zunächst ist die Migrationspolitik der westlichen Industrieländer absurd und trägt eine Teilschuld daran, dass Menschen sterben. Wir brauchen einen internationalen Verteilungsmechanismus, der Flüchtlinge schützt und für sie eine neue Heimat findet.

Wie würde der Mechanismus funktionieren?

Industriestaaten, die Migranten aufnehmen, sollten Zahlungen von anderen reichen Staaten erhalten. Mit dem Geld müssten sie Bedingungen für Einwanderer vor Ort schaffen, die es ihnen ermöglichen, eine eigene Existenz in Sicherheit aufzubauen. Dafür braucht es einen internationalen Migrationsfonds.

Verkehren Sie hier nicht menschliches Schicksal in ökonomischen Nutzen?

Klar ist doch: Es wird immer Migration aus ärmeren in reichere Länder geben. Das ist sinnvoll, denn so gleichen sich Arbeitslosigkeit und Lohnverhältnisse der Länder an. Darüber hinaus sind wirtschaftliche von politischen Flüchtlingen zu unterschieden, was in den USA immer noch nicht geschieht. Wirtschaftsmigration lässt sich nur reduzieren, wenn sich der Lebensstandard in den Entwicklungsländern verbessert.

, 79, ist Professor an der Columbia University in New York. Der Ökonom und ehmalige WTO-Berater ist entschiedener Verfechter von Globalisierung und Freihandel.

In Ihrem Buch „Why Growth Matters“ behaupten Sie, das gehe nicht ohne immer mehr Wirtschaftswachstum.

Ja, das ist der zentrale Punkt. Denn es gibt kein effektiveres Mittel, um Armut in Entwicklungsländern zu bekämpfen als Wachstum. Indien führte 1991 nach Jahren exzessiver Wirtschaftsregulierung entscheidende liberale Reformen ein. Zunehmende Kapitalimporte und der sukzessive Abbau wachstumshemmender Handelsrestriktionen führten zu enormen Wachstumsraten – zwischen 2003 und 2011 um 8,5 Prozent jährlich. Viel wichtiger: Die Armutsquote sank von 45,6 Prozent im Jahr 1985 auf 27,5 Prozent zwanzig Jahre später. 180 Millionen Menschen erzielten erstmals ein Einkommen über der Armutsgrenze. Und in Ländern mit hoher Korruption wirken marktöffnende Reformen armenfreundlich, da die Entscheidung, was produziert oder wie viel investiert wird, nicht mehr von der Gunst eines Politikers abhängt, der die entsprechenden Lizenzen verteilt.

Sie sprechen von rein ökonomischem Wachstum. Braucht es nicht genauso eine soziale Umverteilung der Gewinne?

In Ländern wie Indien mit extremer Armut ist eine Umverteilung aus arithmetischen Gründen nicht sinnvoll. Eine stärkere Besteuerung der reichsten 10 oder 15 Prozent hätte für die gesamte indische Bevölkerung nur einen minimalen bis gar keinen Effekt. Es gibt schlicht zu wenige, von denen man nehmen kann, und zu viele, denen man geben muss. Das vorrangige Ziel von Regierungen in Entwicklungsländern mit hohen Armutsquoten muss es sein, Wirtschaftswachstum zu generieren.

In Indien gab es in den letzten Jahren ein sehr hohes Wirtschaftswachstum, aber die Ungleichheit blieb währenddessen unverändert.

Die bestehende Ungleichheit ist zu 90 Prozent auf das Stadt-Land-Gefälle zurückzuführen. Die Städte profitierten vom wirtschaftlichen Aufschwung. Man darf aber auch nicht übersehen, dass die Armut insbesondere von sozialen Minderheiten zurückgegangen ist. Anders als oft behauptet ist Wirtschaftswachstum inklusiv.

Sind die Zeiten, in denen Handelsliberalisierung und Wirtschaftswachstum als Allheilmittel für Entwicklungsländer gelten, nicht vorbei?

Nein, denn Wachstum generiert Beschäftigung und Steuereinnahmen. Damit ist es die Grundlage für jede soziale Entwicklung. Man kann Gesetze auf legislativer Ebene verabschieden; wenn man aber den Menschen in sozialen Notlagen keine wirtschaftliche Perspektive bietet, dann bleiben diese oft wirkungslos. Ein Gesetz, das häusliche Gewalt gegen Frauen verbietet, ist nicht selten ein stumpfes Schwert, wenn die Frau nicht unabhängig von ihrem Mann leben kann. Und wovon soll sie leben, wenn sie nach einer Scheidung allein ist? Keine Frage, wir brauchen einen schützenden Staat, aber die Menschen brauchen auch Beschäftigung, um sozial unabhängig zu sein.

Bedingungsloses Wachstum bedeutet oft, dass Menschen unter unwürdigen Bedingungen arbeiten. Wie wollen Sie das verhindern?

Das kann nur ein demokratischer Rechtsstaat. Eine demokratische Regierung muss auf lange Sicht immer jene Politik wählen, die im Sinne der Mehrheit ihrer Bevölkerung ist. Demokratie befähigt die Menschen, Wirtschaftsmacht in soziale Macht umzuwandeln. Daher ist für mich Indien ein geeigneteres Vorbild für Entwicklungsländer als China.

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