Identitätssuche und Definitionsversuche: Typisch deutsch?

Wie kann man „Deutsch sein“ definieren? Gibt es dafür überhaupt eine allgemeingültige Antwort? Junge Menschen von „kulturweit“ im Gespräch.

Anna Veigel, die Leiterin von kulturweit, und Jan Feddersen, taz, im Gespräch Bild: A.-K. Liedtke

von ANNIKA MARETZKI

Hier, inmitten der Brandenburgischen Schorfheide, in der „Europäischen Jugenderholungs- und Begegnungsstätte“ (EJB), sprach taz.meinland mit den Freiwilligen von kulturweit. Als Kulturbotschafter*innen gehen sie unmittelbar nach ihrem zehntägigen Seminaraufenthalt für sechs bis zwölf Monate ins Ausland an Goethe-Institute oder als Sprachassistenzen an Schulen. Wer, wenn nicht sie fragen sich: Was ist deutsch?

Diese Frage stieß unter den Freiwilligen auf reges Interesse, sodass sich die Liste mit den rund 100 Plätzen für 330 Freiwillige innerhalb der ersten zwei Stunden füllte, berichtete uns Anna Veigel, die Leiterin von kulturweit. Zusammen mit taz-Redakteur Jan Feddersen moderierte sie die Diskussion, die anders als die bisherigen runden taz.meinland-Tische mit eingeladenen Gästen von Anfang an dem Publikum viel Raum zum Diskutieren ließ. Dieses bestand ausschließlich aus den 18 bis 26-Jährigen, die am neunten Tag ihres zehntägigen Seminaraufenthalts zwar sichtlich erschöpft, aber nicht minder aufmerksam mitdiskutierten.

Vom Verstecken bis zum entspannten Umgang

Zu Beginn stellten sich die Moderator*innen selbst die zentrale Frage nach dem „Deutschsein“. Das Verständnis vom taz.meinland-Moderator hiervon habe sich gewandelt: Geboren in einem „tief sozialdemokratischen Haushalt, wo Wechselwählerschaft niemals denkbar gewesen wäre“, fiel seine Beantwortung auf die Frage unmittelbar mit der Spurensache nach der nationalsozialistischen Vergangenheit der eigenen Familie zusammen. Er habe „Deutschsein“ als etwas Peinliches empfunden: Sein Englisch sollte möglichst akzentfrei sein und die deutsche Herkunft irgendwie „blind gefärbt“ werden.

„Man muss sich nicht zwingend im Ausland schämen, Deutsche zu sein“

Für ihn selbst wäre es daher früher undenkbar gewesen als „Botschafter der deutschen Kultur“ ins Ausland zu gehen. Sein Verhältnis zum „Deutschsein“ hat sich aber seither entkrampft, denn das Sommermärchen 2006 sei ein „großes Glück“ für das Land gewesen, man habe Deutschland als vielfältig wahrgenommen.

Der kulturweit-Leiterin Anna Veigel geht es ähnlich: Sie habe viel dafür getan, dass man ihre Herkunft nicht bemerkt, denn „man war halt so, dass man wenig deutsch sein wollte.“ Nachdem sie viel in der Welt herumgekommen ist und sich dabei mit anderen Kulturen und deren Lebensarten auseinandersetzte, ist auch sie bei der Frage entspannter geworden. Jetzt kann sie sagen: „Ich bin Deutsche“, da sie sich mit vermeintlich deutschen Attribute wie Pünktlichkeit, Perfektionismus und dem dauernden Zweifeln besser identifizieren kann.

Aber wie sehen das diejenigen, die ein Deutschland nur nach der Wende kennen und für die das NS-Regime zeitlich schon weit entfernt ist?

Auf klassischen Wegen: Stolz und Scham

Als erstes meldet sich eine Rheinländerin zu Wort, die inzwischen vielfältiger Kulturen aufgewachsen ist: „Das war für mich erst einmal typisch deutsch“. Nachdem sie das Studium in den scheinbar weniger multikulturellen Süden zog, glaubt sie, es gibt das „Deutschsein“ nicht, da „jede Mentalität komplett anders ist.“ Sie hält es wie die Bundeskanzlerin: „Einheit in Vielfalt“. Aufgrund dieser Vielfalt kann sie mit Stolz behaupten „Deutsche zu sein“ und ist auch „stolz auf die Nation.“

Das Merkel-Zitat findet auch ein weiterer Freiwilliger gut, aber „bei den Flaggen auf den CDU-Plakaten könnte ich kotzen.“ Mit einer anderen Begründung, dem einzigartigen Bewusstsein und der Reflexion über die eigene Geschichte, ist ein junger Mann stolz auf seine deutsche Herkunft. Ein wenig vergrübelt erwidert eine Berlinerin mit DDR-Wurzeln auf die vorherigen Redebeiträge, dass sie wie ihre Eltern nicht gern ihre deutsche Herkunft preisgibt, da sie das als Individuum „nicht ausmacht.“ Man könne, so setzt es sich im weiteren Diskussionsverlauf durch, keinen Stolz für etwas empfinden, dass man nicht selbst erreicht habe. Aber lässt sich aus individuellem Stolz nicht auch Engagement dafür ableiten, dass „das Land so bleibt oder sich bessert?“, hinterfragt jemand die grundsätzlich negative Assoziation vom Stolz-Begriff.

Obwohl sich eine nach Weißrussland gehende Freiwillige auch nicht gern als Deutsche vorstellt, ist sie dann doch ein wenig deutsch: „Anschnallen gilt als unhöflich in Weißrussland, da man so dem Fahrer gegenüber wenig Vertrauen zeigt, also werde ich in nächster Zeit versuchen müssen mich immer heimlich anzuschnallen.“

Es zeigt sich, so analysiert der taz-Moderator, dass die klassischen Diskurse von Stolz und Scham überraschenderweise immer noch sehr präsent in den Köpfen der jungen Freiwilligen sind.

Ein Land der Vielfalt?

Die Vielfalt der Lebensweisen, Meinungen und kulturellen Hintergründe macht Deutschland aus – darauf können sich die meisten der Diskutierenden einigen. Aber wie divers ist dieses Land wirklich? „Mich nervt, das Deutschland hier als so vielfältig und tolerant dargestellt wird, dabei hat es immer noch ein Problem, sich als Einwandererland zu verstehen“, ärgert sich eine Freiwillige aus Baden-Württemberg mit leichtem Dialekt. Dabei sei selbst inländische Vielfalt noch nicht akzeptiert. Denn in den letzten Tagen hätte eine Mitarbeiterin vom Pädagogischen Austauschdienst (PAD) zu ihr gemeint: „Sie sollten ihren Dialekt in den Griff bekommen.“

„Es kann nicht sein, dass mir jemand auf der Straße eine Bibel überreicht und erst einmal fragt, ob ich Deutsch spreche. Das sind die Piekser des Alltags.“

Auch ein in Deutschland geborener Freiwilliger mit arabischen Wurzeln pflichtet ihr bei: „Es kann nicht sein, dass mir jemand auf der Straße eine Bibel überreicht und erst einmal fragt, ob ich Deutsch spreche. Das sind die Piekser des Alltags.“

Der taz.meinland-Moderator sieht darin den entscheidenden Unterschied zu den USA: Anders als dort hält man es im überwiegenden Teil der deutschen Gemeinden für nicht möglich, dass Deutsche auch optisch vielfältig sein können. Er fügt an: „Das ist das Problem“.

Eine ägyptische Freiwillige, die seit einer Woche in Deutschland lebt, wundert sich das „Deutschsein“ nicht als etwas Schönes betrachtet wird. Im Ausland, so die Freiwillige, sei das etwas Tolles und es gäbe viele positive Klischees wie Pünktlichkeit, Verbindlichkeit und den Fußballweltmeisterschaftstitel. „Man muss sich nicht zwingend im Ausland schämen, Deutsche zu sein“, meint auch eine weitere Freiwillige. Andere würden die Bundesrepublik nicht vorrangig mit dem Nationalsozialismus, sondern mit Autos und der starken Wirtschaft in Verbindung bringen.

Alles Merkel-Wähler*innen?

Auch an der Frage, „gehört der Islam zu Deutschland?“, erkannte man das religionsferne und wertebezogene Verständnis der Freiwilligen zum „Deutschsein“ – ähnlich dem US-amerikanischen. Stets im Einklang mit dem Grundgesetz und seinen Werten müsste der Islam praktiziert werden, so die gemeinschaftliche Auffassung.

Feddersen stellte nach einem Stimmungsbild zur Bundestagswahl fest, dass es trotz der vergleichsweise wenigen CDU-Wähler*innen im Publikum „wenig Dissensen zur CDU in der Diskussion gab.“ Das sah eine junge Freiwillige anders: „Meine größte Kritik an der CDU ist die, dass Diskurse nicht mehr geführt werden.“ Gerade diese wären aber essenziell für die deutsche Kultur. Zudem seien kritische Fragen z.B. die Umweltpolitik oder die Ehe für alle nicht angesprochen worden. Die Moderatorin Anna Veigel wünscht sich, dass „man nicht raus geht und weiß, was deutsch ist, sondern die Auseinandersetzung damit ist entscheidend."

Zum Abschluss bleibt: Die eine allgemeingültige Antwort auf die Frage „Was ist deutsch?“ gibt es erwartungsgemäß nicht – aber ist es nicht sehr deutsch, sich verpflichtet zu fühlen, die Frage zu stellen?