Historiker über Wehrmachtsmassaker: „Deutsche müssen Zeichen setzen“

Der deutsch-griechische Historiker Hagen Fleischer über ungesühnte Verbrechen der Wehrmacht in Griechenland und ihre Leugnung in Deutschland.

Ein Teil der Grabstätte Familie Kritsimas auf dem Friedhof von Komeno. Bild: stefan reinecke

taz: Herr Fleischer, heute vor 70 Jahren massakrierten Wehrmachtssoldaten in Kommeno 317 Zivilisten. Warum sind die mannigfachen Verbrechen der Wehrmacht in Griechenland hierzulande bis heute unbekannt?

Hagen Fleischer: Die Massaker im tschechischen Lidice und im französischen Oradour haben einen Platz im kollektiven Gedächtnis, weil sie zum mittel- und westeuropäischen Kulturkreis zählen. Ganz Griechenland, die 100 griechischen Lidices, ist jedoch ein weißer Fleck auf der Europakarte des NS-Terrors. Ich erinnere mich an mein Doktorandenkolloqium an der FU Berlin, 1970. Als ich erzählte, dass ich mein Dissertationsthema geändert habe – von der deutschen Besatzung Dänemarks zur Besatzung Griechenlands –, war das Staunen groß: „Griechenland? Da waren wir auch?“ Das waren Historiker, die vor der Promotion standen!

Was überwog – Unwissen oder Verdrängung?

Es gab und gibt beides, insbesondere gezielte Leugnung. Die Akten des Auswärtigen Amts sprechen bis zu den sechziger Jahren fast nur von „angeblichen“ Kriegsverbrechen. Bezeichnend war der Fall des Berliner Rechtsanwalts Max Merten, der an der Deportation von 50.000 Juden aus Saloniki nach Auschwitz beteiligt war. Griechische Behörden nahmen ihn 1957 fest, er wurde zu 25 Jahren Gefängnis verurteilt. Daraufhin beriet man in Bonn über „Repressalien gegen Griechenland“. Der Vorschlag – in der Sprache der Besatzer, obwohl weniger blutig gemeint – kam vom CDU-Vize-Außenminister (und Ex-NSDAP-Mitglied) Karl Carstens, der später Bundespräsident wurde. Auf massiven deutschen Druck ließen die Griechen Merten 1959 frei. Übrigens war Athen die einzige alliierte Hauptstadt, in der bundesdeutsche Diplomaten im Wehrmachtsjargon sprechen konnten.

Warum?

Man behauptete etwa, die Wehrmacht habe in Notwehr gegen „kommunistische Banditen“ gehandelt. Unvorstellbar in Belgrad oder Paris. Aber in Athen war das auch die Sprachregelung der konservativen Regierung. Im besetzten Griechenland 1941–44 war nämlich die weitaus stärkste Widerstandsorganisation die von den Kommunisten kontrollierte EAM, die dann im Bürgerkrieg 1946–49 gegen eine Mitte-rechts-Koalition verlor. Danach wurden sogar die ehemaligen Kollaborateure der Besatzer in den nationalen Konsensus der Sieger integriert, wohingegen die von den Deutschen zerstörten Dörfer im Verdacht linker Gesinnung standen. Die Opfergruppen hatten nur eine schwache Lobby, im Gegensatz zu Frankreich etwa, wo es ein Ministerium für die Opfer von Krieg und Besatzung gab. In Griechenland war seriöse Auseinandersetzung mit dem Zweiten Weltkrieg jahrzehntelang tabu. Der Erste, der es ab 1980 wagte, an griechischen Hochschulen darüber zu lehren, zunächst als Gastdozent, war ausgerechnet ein Deutscher: Ich! In keinem anderen Land denkbar …

, 69, lebt seit 1977 in Griechenland. Seit 1992 ist er Professor für Neuere Geschichte an der Universität Athen. Er hat verschiedene Bücher auf Deutsch und Griechisch zum Thema Besatzung, Partisanen und Entschädigung publiziert.

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Komeno

In dem nordgriechischen Ort Komeno töteten am 16. August 1943 deutsche Gebirgsjäger 317 Einwohner. 97 Ermordete waren jünger als 15 Jahre, 13 im Babyalter. Die Aktion wure als Vergeltung für einen Partisanenangriff deklariert. Verurteilt für dieses Verbrechen wurde, trotz Ermittlungsverfahren Ende der sechziger Jahre, bis heute niemand.

Hat sich eine deutschen Regierung jemals für die Verbrechen entschuldigt?

Richard von Weizsäcker besuchte 1987 auf meinen Vorschlag hin die zentrale Exekutionsstätte in Athen, wo allein am 1. Mai 1944 200 Griechen erschossen wurden. Er betonte „kein Mensch, zumal kein Deutscher“ könne dort stehen, „ohne von der Botschaft dieses Ortes tief berührt zu sein“. Das beeindruckte die Griechen und gewann Freunde. Im April 2000 empfand Johannes Rau in Kalavryta „Schmerz und Trauer“. Doch vermieden alle Regierungsvertreter das schwere Wort Entschuldigung. Über die Jahrzehnte gab es Fortschritte im Verhalten des offiziellen Deutschland. In den fünfziger und sechziger Jahren mied man die Opferorte. Das Auswärtige Amt warnte Touristen gar, dorthin zu fahren. Ganz Kreta, wo die Wehrmacht besonders brutal gehaust hatte, galt als No-go-Area. Jetzt sind bei fast allen Gedenktagen Vertreter der deutschen Botschaft anwesend. Manche Griechen sprechen bereits von einem Opferort-Tourismus.

Griechische Studien behaupten, Deutschland schulde Athen 162 Milliarden Euro für Kriegsschäden. Ist das seriös?

Nein. Manche Forderungen sind sogar noch höher. In Politik und Presse regiert die Logik: Wer die höchste Zahl nennt, ist der größte Patriot. Doch trotz lückenhafter Quellenlage steht fest, dass Griechenland die höchsten Verluste aller nichtslawischen Länder hatte. Allein 1941/2 sind etwa 100.000 Zivilisten verhungert. Beträchtliche Mitschuld hatte die deutsche Besatzung, die das Land ausplünderte.

Wie sind deutschen Regierungen nach 1949 mit Forderungen nach finanzieller Entschädigung umgegangen?

1961 zahlte die Bundesrepublik auf internationalen Druck „Wiedergutmachung“ für bestimmte Opfergruppen an alle Weststaaten, an Griechenland 115 Millionen D-Mark. Ansonsten abweisend. Dabei gab und gibt es Möglichkeiten für Entschädigungen, ohne dass die Deutschen ihre Position, keine Reparationen zu zahlen, aufgeben müssen. Etwa die Zwangsanleihe bei der griechischen Zentralbank: Sogar das NS-Regime hatte Anfang 1945 berechnet, dass die „Reichsschuld gegenüber Griechenland“ 476 Millionen Reichsmark beträgt. Das wären heute ohne Zinsen umgerechnet etwa 6 bis 7 Milliarden Euro. Schröder und Fischer signalisierten vor 1998 an Athen, sie wären „offen“ für einen Kompromiss. Als Rot-Grün regierte, lehnte man Verhandlungen kategorisch ab. Der griechische Vertreter sagte mir damals: „Als wären wir gegen eine Glaswand geprallt.“

Als CDU-Kanzlerin Merkel in Athen war, hat sie kein Wort über die NS-Besatzung verloren. Würde es helfen, wenn sie zeigt, dass sie die moralische deutsche Verpflichtung kennt?

Von Merkel haben die Griechen mehr europäische Solidarität erwartet, in der Art von Brandt, Schmidt und Kohl. Als antigriechische Schlagzeilen in rassistischen Stereotypen schwelgten, hat sich Merkel versteckt – auch aus wahltaktischem Opportunismus. Hätte sie sich früher zum Verbleib von Athen im Euro bekannt, wären die Zinsen von der internationalen Spekulation nie so hochgejagt worden. Das wäre beide Seiten billiger gekommen. In puncto Vergangenheit: Viele Griechen halten die deutsche Mauertaktik für reine Machtarroganz. Deutschland hat sich mit dem Recht des Stärkeren nie mit den Griechen an den Verhandlungstisch gesetzt. Das deutsche Argument, man transferiere doch über die EU Gelder auch nach Athen, ist hohl. Solche Finanzspritzen verbessern die Aufnahmefähigkeit für deutsche Exporte – selbst in Ländern wie Irland oder Portugal, wo nie deutsche Soldaten gewütet haben.

Wie ist das Bild Deutschlands in Griechenland 2013?

Deutschland ist in Griechenland derzeit unbeliebter als die Türkei. Dass unsere Diplomaten zu Gedenkfeiern kommen, wäre vor dreißig, vierzig Jahren als Symbol wahrgenommen worden. Heute ist das zu wenig. Die Griechen fühlen sich brüskiert, von den Jahrzehnten des Leugnens und Abwehrens. Viele klagen, Deutschland warte, bis der letzte Überlebende der Massaker stirbt. Das alles aber betrifft die Regierungspolitik, nicht den individuellen Besucher.

Also ist es 70 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs endgültig zu spät für eine Art Entschädigung, für eine Einigung?

Es ist unrealistisch, dass Berlin an Athen alle Schuld und Schulden einer verbrecherischen Besatzungspolitik begleicht. Viele Forderungen aus Athen sind zudem realitätsfremd. Aber bei beiderseitigem gutem Willen gibt es Wege. Finanzminister Schäuble hat bei seiner Athener Pressekonferenz hinsichtlich der vom NS-Regime anerkannten Schulden Chancen für Verhandlungen angedeutet. War das ehrlich gemeint, wäre bereits viel gewonnen.

Worüber soll genau verhandelt werden?

Über die historische Berechtigung. Über die praktischen Möglichkeiten eines Kompromisses – von Infrastrukturprojekten bis zu Stipendien für die Opfergemeinden. Über Wege zum Abbau der deutscherseits fast totalen Ignoranz: etwa durch Bildung einer gemeinsamen Schulbuchkomission, wie es mit den anderen einstigen Kriegsgegnern der Fall ist. In deutschen Schulbüchern steht lediglich, dass die Wehrmacht 1941 einmarschiert ist, gelegentlich, dass sie Ende 1944 wieder abzog. Was die Deutschen dazwischen machten, bleibt der Fantasie überlassen. Vielleicht haben sie nur in der Ägäis gebadet … Es ist an der Zeit, deutscherseits endlich ein sichtbares Zeichen zu setzen.

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