Hessischer NSU-Untersuchungsausschuss: Rote Kritik, grüne Zurückhaltung

Vor dem Untersuchungsausschuss erscheinen die letzten Zeugen. Die Abschlussberichte der Parteien werden wohl sehr unterschiedlich ausfallen.

Straßenschild „Halitplatz“

Der Mord an Halit Yozgat bleibt bis heute in Teilen unaufgeklärt. Gab es NSU-Komplizen vor Ort? Foto: imago/Hartenfelser

WIESBADEN taz | Das verunsicherte Selbstverständnis der Nachrichtendienste nach dem Ende der DDR sei für ihr Versagen im Fall des NSU verantwortlich. Diese Auffassung vertritt der Jurist Wilhelm Kanther, der für die hessische Landesregierung die Reorganisation des Landesverfassungsschutzes konzipiert hat. Als einer der letzten Zeugen sagte er am Freitag vor dem NSU-Untersuchungsausschuss des hessischen Landtags: „Der Überhang des Ost-Westkonflikts saß noch in den Fluren“, längst überfällig sei eine Neuausrichtung gewesen, weg von der Spionageabwehr, so Kanther.

Der Sohn des ehemaligen Bundesinnenministers Manfred Kanther, CDU, ist inzwischen als Abteilungsleiter im Innenministerium für die Rechtsaufsicht über das Landesamt zuständig. Nach der „großen Betroffenheit“ über die Tatsache, dass die zuständigen Behörden nichts von dem mörderischen Treiben des NSU mitbekommen hätten, dem auch der Mord an Halit Yozgat in Kassel zugeschrieben wird, sei inzwischen ein „Mentalitätswandel“ eingetreten. Der Verfassungsschutz arbeite inzwischen operativ und ziele auf das Verhindern von Bedrohungen: Die MitarbeiterInnen seien „angehalten, ein gewisses Jagdfieber zu entwickeln“; auch bei Ausbildung, Rekrutierung und Führung von Mitarbeiterinnen und V-Leuten seien die richtigen Konsequenzen gezogen worden, versicherte der Zeuge den Abgeordneten.

Weniger ergiebig verlief die Befragung von Sonja M., die um die Tatzeit des Mordes an Halit Yozgat im offenen Vollzug in der JVA Baunatal einsaß. Ihre damalige Zellennachbarin Corryna G., die der Neonaziszene zugerechnet wird, hatte bei ihrer Zeugenvernehmung in Wiesbaden für Aufregung gesorgt: Dreimal habe sie zusammen mit Sonja M. das Internetcafè aufgesucht, das später Schauplatz des Mordes war. Diese Aussage hatte wilde Spekulationen über eine mögliche Beteiligung der örtlichen Szene bei der Auswahl der Opfer ausgelöst. „Ich habe noch nie in meinem Leben ein Internetcafe betreten“, versicherte dagegen Sonja M. am Freitag. „Wieder einmal hat uns eine Zeugin aus der rechten Szene an der Nase herumgeführt“, ärgerte sich CDU-Obmann Holger Bellino.

Es war nicht der einzige Flop. Dreimal hatte der Ausschuss den ehemaligen Verfassungsschützer Andreas Temme geladen, der unmittelbar vor dem Kasseler Mord am Tatort gewesen war und nichts mitbekommen haben will. Temme, der zeitweilig als tatverdächtig gegolten und sich nach der Tat nicht einmal als Zeuge bei der Polizei gemeldet hatte, blieb bei seiner Darstellung. Auch der ehemalige Sicherheitsbeauftragte des Verfassungsschutzes hinterließ Irritationen. Laut Abschrift hatte er dem damals Tatverdächtigen Temme am Telefon geraten: „Ich sag ja jedem, wenn er weiß, dass irgendwas passiert, bitte nicht vorbeifahren.“ An anderer Stelle des Telefonprotokolls war respektlos vom „Umdaddeln“ des Mordopfers die Rede. Für seine Wortwahl hätte er sich vor dem Ausschuss wenigstens entschuldigen müssen, beklagte CDU-Mann Bellino.

Holger Bellino, CDU-Obmann

„Wieder einmal hat uns eine Zeugin aus der rechten Szene an der Nase herumgeführt“

Während alle fünf Landtagsfraktionen dieser Bewertung zustimmen dürften, wird es bei anderen Punkten unterschiedliche Abschlussberichte geben. SPD und Linke sehen ihre Kritik am damaligen Innenminister und heutigen Ministerpräsidenten Volker Bouffier, CDU, nach seinem Auftritt vor dem Ausschuss bestätigt. Bouffier persönlich hatte unmittelbar nach dem Mord die direkte Vernehmung der von Temme geführten V-Leute durch die Polizei verhindert. Mit diesem Sperrvermerk habe er die Ermittlungen behindert, so die Abgeordneten von SPD und Linke, Nancy Faeser und Janine Wissler. Außerdem habe er dem Parlament gegenüber bewusst drei Monate lang die Tatsache verheimlicht, dass ein Verfassungsschutzmitarbeiter am Tatort gewesen war.

CDU-Obmann Belino teilt die Auffassung des Ministerpräsidenten, er habe gar nicht anders handeln können. Es bleibt spannend, wie sein grüner Koalitionspartner Jürgen Frömmrich diese Vorgänge inzwischen bewertet. Als grüner Oppositionspolitiker hatte er Bouffier scharf kritisiert. Am Freitag sagte er der taz, er werde sich erst nach Abschluss der Beweisaufnahme festlegen. Als letztem Zeugen räumt der Ausschuss dem Vater des ermordeten Halit Yozgat ein Schlusswort ein.

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