Heiligabend in der Senioren-WG: Der Geist vergangener Feste

Für die BewohnerInnen einer Senioren-WG in Berlin-Kreuzberg ist Weihnachten vor allem ein Fest der Erinnerungen.

Weihnachtsfeier in einer Senioren-WG in Berlin-Kreuzberg Foto: Sebastian Wells

Morgen, Kinder, wird’s was geben! / Morgen werden wir uns freun! / Welche Wonne, welches Leben / Wird in unserm Hause sein; / Einmal werden wir noch wach, / Heißa, dann ist Weihnachtstag!

An einem dunklen Abend im Advent steht die Ehrenamtliche Gisela Kirschberg in der Senioren-WG eines Pflegeheims in der Kreuzberger Dieffenbachstraße und drückt gut gelaunt auf die Play-Taste ihres CD-Players.

Annemarie Kunstmann, 98 Jahre alt, schüttelt milde amüsiert ihre kinnlangen weißen Haare: „Das sind ja Kinderlieder!“ Sie setzt sich auf das rote Sofa in der Sitzecke ihrer WG, vor den kleinen Couchtisch, auf dem Tellerchen mit Kipferln und Mandarinenschnitzen stehen und Teetassen, aus denen es dampft: „Unglaublich penetrant dieser Glühweingeruch, nicht wahr?“, sagt sie, lacht leise in sich hinein und trinkt vorsichtig einen kleinen Schluck.

Einmal im Monat kommen zwei Ehrenamtliche in die Seniorenwohngruppe des Pflegeheims. Sie singen gemeinsam mit den elf Bewohnerinnen und lesen ihnen vor. Jetzt, im Dezember, wird daraus eben eine kleine Weihnachtsfeier. Gisela Kirschberg, die Ehrenamtliche, liest etwas Adventliches von Hans Christian Andersen; erstaunlich textsicher arbeitet man sich dann gemeinsam durch das einschlägige Repertoire an Weihnachtsliedern.

Einmal werden wir noch wach, / Heißa, dann ist Weihnachtstag!

Helga Agnes Drews sitzt am Tisch in der WG-Küche und schiebt den Vanillejoghurt vom Abendbrot beiseite. Weihnachten, sagt die zierliche kleine Frau mit den schwarz gefärbten Haaren, da sehe sie immer ihr Wohnzimmer vor sich, damals in der Akazienstraße in Schöneberg, wo sie mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern lange Jahre gelebt habe. „Die Wohnzimmertür war aus Mattglas. Wir haben immer drauf geachtet, dass die Kinder nicht gelinst haben, bevor alle Kerzen am Baum brannten. Meine Mutter kam zu Weihnachten, mit ihrem zweiten Mann, und unser alleinstehender Nachbar mit seiner Gitarre.“ Das, sagt sie, „das war die schönste Zeit“.

Der Geist vergangener Weihnachten

Drews und ihre Mitbewohnerinnen, sie feiern an diesem Adventsabend vor ihren Glühweintassen weniger das kommende Weihnachtsfest als den Geist vieler vergangener Weihnachten.

Weihnachten, sagt Annemarie Kunstmann, das war die Christmette im Münchner Dom. Kunstmann ist erst vor Kurzem nach Berlin gezogen, weil hier inzwischen die Verwandtschaft wohnt, die noch übrig ist. „Glauben Sie’s oder nicht, Berlin war tatsächlich immer mein Lebenstraum“, sagt sie.

Früher, in München, ging es jedenfalls immer punkt Mitternacht in den Dom, und der damals kleine Sohn, der inzwischen schon gestorben ist, durfte dann lange aufbleiben.

Welche Wonne, welches Leben / Wird in unserm Hause sein.

Und dann? Dann sei das ganz normale Leben passiert, was sonst? „Keine Krise, nein, das nicht. Die Kinder wurden groß, jeder ging seiner Wege“, sagt Drews. Sie nimmt prüfend eine Kerze vom Couchtisch: „Sind die echt?“ Sind sie nicht, das Glimmern in dem vermeintlichen Wachsstumpen ist eine LED-Birne hinter mattem Plastik.

Als Helga Agnes Drews, 74 Jahre alt, gelernte Hutmacherin, später langjährige Chefin ihrer eigenen Drogerie in der Schöneberger Akazienstraße, vor ein paar Jahren einen Schlaganfall hatte, konnte ihre Tochter sich neben dem Job nicht auch noch um die Mutter kümmern. Drews zog in die Senioren-WG in der Dieffenbachstraße. Zu Weihnachten kommen ihre Kinder und die vier Enkel sie besuchen.

„15 haben niemanden mehr“

Das ist nicht selbstverständlich, sagt Hausleiterin Viola Kleßmann. Von den insgesamt 93 BewohnerInnen haben „ungefähr 15 niemanden mehr“. Nach Hause geholt würden ohnehin nur die wenigsten: „Viele unsere Bewohner sind dement und sehr pflegebedürftig, da fühlen sich viele Angehörige schnell überfordert.“

Weihnachten, sagt Kleßmann, sei mehr noch als sonst bei den Angehörigen „die Zeit des schlechten Gewissens“. Wie bezieht man die demente Mutter mit ein, sodass es für alle besinnliche Festtage werden?

Im Haus Bethesda ist Weihnachten hingegen schlicht ein Job, der auf viele professionelle Schultern verteilt wird: Die Küche bekommt den Auftrag „Kartoffelsalat und Würstchen“, die PflegerInnen bekommen den Auftrag, für die BewohnerInnen kleine Fünf-Euro-Geschenke für die große gemeinsame Bescherung unterm Weihnachtsbaum zu besorgen, der mit allen BewohnerInnen, die noch helfen können, gemeinsam geschmückt wird.

Ist das ein schönes Weihnachten? „Ach, wissen Sie, Weihnachten ist doch auch immer eine Frage der Erwartungshaltung“, sagt Drews. Also ja, sagt sie. „Ich finde, ja.“ Das Leben ist eben weitergegangen, was auch sonst?

Wisst ihr noch, wie vor’ges Jahr / Es am Heil’gen Abend war.

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