Hartz IV: Schulbesuch sanktioniert

Im niedersächsischen Nienburg wollen die Kinder von Hartz IV-Aufstockern Abitur machen. Dennoch läd das Jobcenter sie immer wieder vor.

Zum Abi sollen auch Kinder von Hartz-IV-Empfängern antreten - doch das Jobcenter setzt sie unter Druck. Bild: dpa

HANNOVER taz | Eigentlich wissen die Brüder Jonas und Max*, wie ihr weiterer Werdegang aussehen soll: Abitur, dann ein Studium, so planen es der 16- und der 17-Jährige. Vom Jobcenter im niedersächsischen Landkreis Nienburg sehen sich die beiden dabei allerdings gegängelt. Weil ihre Eltern mit Hartz IV aufstocken, lädt die Behörde sie seit ihrem 15. Geburtstag immer wieder zu sogenannten Beratungsgesprächen vor. Alle paar Monate werden Jonas und Max aufgefordert, mit Zeugnissen und Lebenslauf beim Jobcenter zu erscheinen, um „Stellengesuche zu besprechen“, wie es in den Schreiben heißt – unter Androhung von Sanktionen.

„Die Situation ist nicht mehr tragbar“, sagt die Mutter der beiden. Ende Oktober sagte Maria K.* für ihre Söhne einen Termin beim Jobcenter ab und erklärte, eine berufliche Vermittlung sei nicht angezeigt, da sie noch bis mindestens 2016 die Schule besuchten. Ihrem Brief legte sie vorsorglich Schulbescheinigungen bei. Das Amt reagierte prompt: Es kündigte an, den Jungen die Gelder zu kürzen, weil sie „keinen wichtigen Grund“ für ihr Nicht-Erscheinen mitgeteilt hätten. Maria K. wandte sich daraufhin an die Presse, über ihren Fall berichtete die Junge Welt.

K.s Eindruck: Das Jobcenter versuche, ihre Söhne „in den Arbeitsmarkt zu drängen“. Die gelten als Kinder in einer sogenannten Hartz-IV-Bedarfsgemeinschaft ab dem 15. Lebensjahr rechtlich als „erwerbsfähig“. Als Schüler mit guten Noten und entsprechend guten Aussichten aufs Abitur seien sie aber noch längst nicht wie Arbeitssuchende zu behandeln, argumentiert K. „Man würde sie natürlich nie zu etwas zwingen“, sagt sie, „aber wenn man sie wirklich fördern wollte, würde man sie auf freiwilliger Basis zur Beratung laden.“

Ähnlich sieht man das beim Landesverband des Sozialverbandes Deutschland (SoVD). Die Jobcenter-Praxis müsse „dringend gekippt werden“, heißt es dort. Jonas und Max sind laut SoVD keine Einzelfälle. In den landesweit 60 Beratungszentren des Verbands meldeten sich immer wieder Jugendliche mit ähnlichen Erfahrungen, bislang vornehmlich aus dem Norden Niedersachsens. Der Umgang mit den Schülern zeige, „dass auch amtliche Weisungen von Vorurteilen geprägt sein können“. Das „Misstrauen gegenüber Hartz-IV-Empfängern“ sei „unerträglich“, so der Sozialverband. Statt den Plan der Jugendlichen, „einen qualifizierten Schulabschluss zu machen, zu unterstützen, werden sie schikaniert“.

Mit über einer Million lag 2012 die Zahl der Sanktionen, die Jobcenter bundesweit gegen Hartz-IV-Empfänger verhängt haben, so hoch wie nie.

104.000 Kürzungen von Sozialleistungen gab es davon allein Niedersachsen.

In zwei Drittel der Fälle wurde wegen sogenannter Meldeversäumnisse sanktioniert, etwa wenn Betroffene ohne Begründung nicht zu Terminen erschienen waren.

Schärfere Sanktionen forderte unlängst die Bundesagentur für Arbeit: Wer dreimal einen Termin im Jobcenter verpasst, solle zeitweise gar kein Geld mehr erhalten.

Bislang können die Gelder um maximal zehn Prozent gekürzt werden.

Auch beim Bundesdatenschutzbeauftragten, der die Daten- und Informationsverarbeitung der Jobcenter bundesweit kontrolliert, bewertet man das Vorgehen in Nienburg kritisch. Maria K. hat sich wegen datenschutzrechtlicher Bedenken an die Behörde gewandt, weil ihre Söhne immer wieder unter Androhung von Leistungskürzungen aufgefordert werden, dem Jobcenter Zeugnisse vorzulegen. „Solange das Kind die Schule besucht, genügen die Angaben der tatsächlichen Verhältnisse und der Nachweis über den Schulbesuch“, erklärt dort ein Sprecher. Und betont: „Schulzeugnisse müssen nicht vorgelegt werden.“

Das Jobcenter in Nienburg weist unterdessen jegliche Kritik zurück: Zeugnisse würden ausschließlich freiwillig eingereicht, die Nichtvorlage werde auch nicht sanktioniert, heißt es in einer Stellungnahme von Bereichsleiterin Daniela Meyer. Der Text der Behördenschreiben könne aber möglicherweise einen anderen „Eindruck erwecken“, räumt sie ein und kündigt an, „die Formulierungen der Vordrucke anzupassen“.

Maria K.s Vermutung, das Jobcenter setze ihre Söhne unter Druck, um sie zum Arbeiten zu drängen, nennt Meyer „absurd“. „In der Regel“ erfolgten auch „keine weiteren Einladungen oder Schreiben an die jungen Erwachsenen“, sobald ihr Schulbesuch nachgewiesen werde.

Jonas und Max sind offenbar die Ausnahme von dieser Regel. Allein in diesem Jahr erhielten sie laut ihrer Mutter bislang bereits vier Vorladungen ins Jobcenter.

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