Hartnäckige Gewerkschaftssekretärin: "Ich bin ein Kind der 68er"

Die Göttingerin Katharina Wesenick fordert den Edeka-Konzern heraus, weil der viele Angestellte schlecht behandelt. Ihren ersten Betriebsrat gründete sie in der Grundschule.

Nennt Aufhören "keine Option": Katharina Wesenick. Bild: Benjamin Laufer

taz: Frau Wesenick, brauchen Sie es, gebraucht zu werden?

Katharina Wesenick: Ich werde gerne gebraucht, um danach nicht mehr gebraucht zu werden.

Sie scheinen es sich zur Lebensaufgabe gemacht zu haben, anderen Menschen zu helfen.

Ich will aber keine Almosen verteilen, sondern die Leute befähigen, ihre eigenen Ressourcen zu nutzen, um aufrecht durch die Welt gehen zu können.

Sie finden, es gehen zu viele Menschen gebückt?

Seit ich denken kann, habe ich den Eindruck, dass viel zu viele Leute gebückt gehen müssen. Je älter ich werde und je schlimmer die Bedingungen in der Gesellschaft werden, desto mehr gehen gebückt durchs Leben. Ich bin in einer Zeit aufgewachsen, in der es mal anders war. Damals gab es den Traum, dass wir alle aufrecht gehen können. Ich bin ein typisches Kind der 68er.

Haben Sie mit Ihren Eltern demonstriert?

Ich erinnere mich, dass ich als ganz kleines Kind „Pershing zwo, ab ins Klo“ gegen den Nato-Doppelbeschluss gebrüllt habe. Damals noch ohne zu wissen, worum es eigentlich geht.

35, ist in Aachen aufgewachsen und kam nach ihrer Ausbildung zur Fremdsprachenkorrespondentin und Europasekretärin zum Studium - Politik, Ethnologie und Soziologie - nach Göttingen.

Ab 2008 Gewerkschaftssekretärin, seit Oktober 2009 bei Ver.di für den Einzelhandel in der Region Südniedersachsen-Harz zuständig.

In Göttinger Netto-Märkten gibt es seit dem Frühjahr Vertrauensleute: Ver.di-Mitglieder, die für die KollegInnen ansprechbar sind. Bei Discountern ist das laut der Gewerkschaft bundesweit einmalig. Drei Göttinger Märkte hat Netto in den vergangenen Wochen geschlossen, ohne die MitarbeiterInnen vorher zu informieren. Laut Netto waren die Filialen nicht rentabel. Die Beschäftigten arbeiten nun in anderen Filialen - fürchten weitere Schließungen. BELA

Und wann waren Sie das erste Mal aus eigenem Antrieb politisch aktiv?

Das war in der Grundschule, ich war acht Jahre alt. Wir hatten eine sehr dünkelhafte Grundschullehrerin vom alten Eisen, die die Heimkinder in der Klasse gedemütigt hat. Da habe ich auf dem Spielplatz den Anti-Müller-Club gegründet. Wir haben alle Ausweise bekommen, da stand drauf, dass wir alle aufstehen, wenn Frau Müller wieder Heimkinder gemein behandelt.

Ihr erster Betriebsrat.

Leider hat das nicht funktioniert. Es ist niemand aufgestanden, die Kinder haben es ihren kleinbürgerlichen Eltern gepetzt und dann wochenlang nicht mehr mit mir geredet, weil so viel Aktivismus den Eltern wohl unheimlich war. Ich hatte damals gedacht, dass ich das für die Leute regeln kann. Das war ein Fehler.

Acht Jahre alt – und schon eine politische Enttäuschung.

Es war gar nicht unbedingt eine Enttäuschung, weil ich das für mich ausgewertet habe. Meine Eltern haben mir geraten, mich direkt an die Leute zu wenden, die es betrifft. Danach kannst du immer noch Unterstützung organisieren. Das war für mich eine Lehre des Lebens.

Vor ein paar Jahren sind Sie auf einer Demo gegen Studiengebühren auf die Bühne gestürmt und haben eine sehr leidenschaftliche Rede für die Rechte von Asylsuchenden gehalten. Nur wollte Ihnen niemand so richtig zuhören.

Das war tatsächlich eine bittere Erfahrung. Aber ich habe auch daraus gelernt. Ich bin mittlerweile der festen Überzeugung, dass fast alle Menschen sensibel für Unrecht sind. Es ist eine Frage des Momentes, der Ansprache und der langfristigen Strategie, ob man die Menschen erreichen kann.

Mittlerweile interessieren sich viele Menschen für das, was Sie zu sagen haben. Sie helfen jetzt beruflich den Angestellten im Einzelhandel. Heimkinder, Asylsuchende, Angestellte …

Es geht darum, dass Menschen offensichtlich leiden. Und es geht darum, dass Menschen etwas daran verändern wollen. Auch wenn man das manchmal nur an einem Glitzern in ihren Augen erkennt. Wenn diese beiden Kriterien zusammenkommen, dann fühle ich mich berufen.

Sie sind jetzt seit zweieinhalb Jahren Gewerkschaftssekretärin in Göttingen. Ziemlich schnell haben Sie es geschafft, den Edeka-Konzern mit seiner Tochterfirma Netto in Erklärungsnot und Bedrängnis zu bringen. Viele Angestellte wehren sich inzwischen gegen ihre Arbeitsbedingungen. Wie haben Sie das eigentlich angestellt?

Ich habe mich konzentriert.

Worauf?

Ich habe mich auf wenige Projekte konzentriert. Das alltägliche Leid bei den Discountern ist immer und überall. In Südniedersachsen habe ich in zwei Fällen meine Kriterien gefunden – das Leid und den Mut, etwas zu verändern. Viele Netto-Beschäftigte sind weinend zu mir in die Rechtsberatung gekommen, manche hatten schon Psychiatrieerfahrung. Edeka will Aldi und Lidl vom Markt verdrängen, und das geht nur durch systematisches Unterlaufen der Tarifverträge und der Arbeitsschutzgesetze. Hinter vorgehaltener Hand sagen die mir das auch.

Sie schießen sich ganz schön auf Edeka ein.

Edeka privatisiert seit ein paar Jahren in großem Ausmaß seine großen Märkte. Über 200.000 Menschen arbeiten dort ohne Tarifverträge und ohne Betriebsräte in rechtsfreien Zonen. Durch die Konzentration auf diese zwei Projekte können wir zeigen, dass es möglich ist, sich zur Wehr zu setzen. Ich will zeigen, dass es geht. Die Beschäftigten müssen sich von den Konzernen nicht alles gefallen lassen! In Bad Gandersheim hat das funktioniert: Dort bekommen die Beschäftigten wieder Tariflöhne.

Anfangs haben sich dort aber viele Beschäftigte hinter die Chefs und gegen Ver.di gestellt.

Es gibt in jedem Unternehmen Menschen, die jeden Tag die Wahl haben zwischen dem Weg der Gemeinschaft und dem Weg der Spaltung. Viele versprechen sich Vorteile, wenn sie sich auf die Seite der Chefs stellen. Das ist wie bei Harry Potter: Hältst du zu Lord Voldemort oder hältst du zu Harry? Meine Aufgabe ist es, die Leute zu unterstützen, die sich auf die Seite von Harry Potter stellen.

Die kontinuierliche Arbeit zahlt sich aus: Angestellte werden selbstbewusster, teilweise verbessern sich die Arbeitsbedingungen.

Das sind die Momente, von denen ich lebe und von denen ich zehre. Weil wir diese Erfahrungen bundesweit streuen und bundesweit weiter kämpfen werden.

Retten Sie auch in Ihrer Freizeit Menschen?

Nein, ich achte sehr darauf, dass ich in meiner Freizeit keine Führungsverantwortung habe. Ich singe im Chor, mache Yoga und ich jogge. Und ich habe einen engen Freundinnenkreis. Meine Seele und mein Körper sagen mir sofort, wenn das als Ausgleich nicht reicht.

Eigentlich hätten Sie ja auch vorher wissen können, wie anstrengend die Arbeit bei Ver.di ist. Wann haben Sie sich dafür entschieden, hauptberufliche Gewerkschafterin zu werden?

Da habe ich eigentlich selbst nie drüber nachgedacht, sondern bin von der Gewerkschaft angesprochen worden. Ich habe früher gewerkschaftliche Jugendbildungsarbeit in Berufsschulen gemacht. Das habe ich wohl ganz gut hinbekommen, denn gegen Ende meines Studiums kamen Leute auf mich zu und haben mir gesagt, sie möchten, dass ich für Ver.di arbeite. Und ich habe ganz selbstverständlich zugesagt.

Sie hätten ja auch in die freie Wirtschaft gehen können.

Das war für mich von vorneherein ausgeschlossen. Ich habe vor meinem Studium zwei Jahre als Chefsekretärin gearbeitet. Gereizt hat mich damals, dass ich viel Gestaltungsmacht hatte. Aber ich habe auch gesehen, auf wessen Kosten. Das war für mich keine Option und ich habe dann erst mal studiert. Die beste Entscheidung meines Lebens!

Warum?

Ich ziehe meine Motivation aus meinem Unrechtsbewusstsein, aber das alleine reicht nicht. Ich brauche klare Analysen, wie diese Gesellschaft aufgebaut ist. Viele Zusammenhänge habe ich vorher bestenfalls geahnt, aber nicht durchdrungen. Diese Kombination aus Leidenschaft für den aufrechten Gang und sozialwissenschaftlicher Analyse hat es mir erst ermöglicht, diesen Job auszuüben.

Wenn Sie doch in der freien Wirtschaft arbeiten müssten: Chefin oder Angestellte?

Dann würde ich mich dafür entscheiden, in einem Unternehmen zu arbeiten, in dem die Menschen Chefinnen und Angestellte gleichzeitig sind. In dem die Menschen über den Reichtum, den sie produzieren, selbst entscheiden.

Bei Netto gibt es aber Chefs, die in Göttingen gerade drei Filialen geschlossen haben. Ein Zusammenhang mit den Arbeitskämpfen scheint nicht ausgeschlossen. Was machen Sie eigentlich, wenn Ihre Kampagne nach hinten los geht und alle arbeitslos werden?

Das ist für mich keine Option.

Aber wenn’s passiert?

Dann werden wir gemeinsam mit den Paten aus der Politik dafür sorgen, dass diese Menschen woanders unterkommen. Schließlich haben sie eine Vorbildfunktion, weil sie in einem unterdrückerischen System gezeigt haben, dass man nicht rechtlos ist. Das man ein Recht hat auf die Einhaltung von Arbeitsschutz und Tarifverträgen.

Können Sie sich vorstellen, den Job irgendwann an den Nagel zu hängen? Mal etwas zu machen, ohne dabei gegen Ungerechtigkeit zu Felde zu ziehen?

Auch das ist keine Option.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.