Grosse alte Dame: „Nachholen und Ausruhen“

Unter den Nationalsozialisten kam sie in die Psychiatrie und wurde zwangssterilisiert. Heute ist Dorothea Buck Pionierin einer Therapie auf Augenhöhe

Konnte sich nach Selbstmordgedanken wieder aufraffen, obwohl ihr Schreckliches passiert ist: Dorothea Buck. Bild: Miguel Ferraz

Aus einem Gespräch mit Dorothea Buck verabschiedet man sich sonderbar getröstet. Wenn jemand aus den Erfahrungen, die sie gemacht hat, so lebensbejahend herausgehen kann, dann ist da tatsächlich Hoffnung

taz: Ich hatte es ja angekündigt: Ich möchte Sie zum Thema Hoffnung befragen.

Dorothea Buck: Ich habe mir drei Punkte dazu überlegt: die mitmenschliche Psychiatrie, die Genesung begleitet. Die musikalische klassische Früherziehung durch Kent Nagano, der ja nächstes Jahr unser Operndirigent wird – haben Sie sein Buch gelesen, es ist ganz wunderbar, „Erwarten Sie Wunder!“– und schließlich Hamburg als Stadt der Solidarität. Dafür steht Sabine Tesche mit den Paketen für bedürftige Kinder. Und ich möchte einen Wunsch frei haben.

Kann ich den gewähren?

Sie können dafür schreiben, dass die lutherischen Theologen sich nicht mehr besser bezahlen lassen als ihre Altenpfleger. Jesus hat ja nicht gesagt: „Was ihr einem meiner geringsten Brüder gepredigt habt“, sondern: „Was ihr einem meiner geringsten Brüder getan habt“. Ich bin ja jetzt in der Altenpflege – das ist eine sehr anstrengende Tätigkeit, körperlich und seelisch, die völlig unterbezahlt wird.

Sie sind jetzt 97 Jahre alt – haben Sie manchmal das Gefühl: Ich habe mich lange engagiert, nun sollen es andere tun?

Ich bin jetzt im Albertinen-Haus. Als das anfing, war ich als Grüne Dame hier, die die Bewohner besuchte, jetzt bin ich völlig bettlägerig. Da lese ich. Gott sei Dank habe ich mir 2000 eine Linse einsetzen lassen, sonst wäre ich jetzt blind. Gerade lese ich über Luther – wie konnte er auf diese etwas seltsame Idee eines allein selig machenden Glaubens kommen, den Jesus nie vertreten hat? Ich lese und döse abwechselnd. Ich genieße es zu lesen, wozu ich früher nie gekommen bin, ich war ja frei schaffende Bildhauerin und dann Lehrerin. Dann habe ich mich sehr für Psychiatrie engagiert. So dass ich eigentlich nicht von Erschöpfung reden möchte, sondern von Nachholen und Ausruhen.

97, Bildhauerin und Lehrerin, ist unter den Nationalsozialisten in der christlichen Heilanstalt Bethel bei Bielefeld zwangssterilisiert worden. Sie ist Pionierin einer Psychiatrie, in der sich die Patienten und Ärzte auf Augenhöhe begegnen.

Haben Sie das Gefühl, dass die anti-psychiatrische Bewegung nun sicher aufs Gleis gesetzt ist?

Ich möchte nicht von Anti-Psychiatrie reden, sondern von einer Psychiatrie als Erfahrungswissenschaft, die auf den Erfahrungen der Betroffenen gründet statt auf den Spekulationen der Profis. Durch die Pharmaindustrie gab es eine starke Verengung des Blicks auf den Hirnstoffwechsel. Aber das ändert sich gerade. Die zukünftige Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie hat erklärt, dass sie künftig mehr Therapiegespräche führen wollen. Ich habe in der Zeit meiner schizophrenen Schübe in fünf verschiedenen Anstalten nie ein wirkliches Gespräch erlebt.

1990 schrieben Sie auf, was Sie unter den Nationalsozialisten in der Psychiatrie erlebt haben. Was war für Sie der Anlass, an die Öffentlichkeit zu gehen?

Ich bin durch den Journalisten Hans Krieger an die Öffentlichkeit gekommen. Der hatte mich dazu gebracht, meine Erfahrungen aufzuschreiben. Erst wollte ich das nicht, ich war damals Lehrerin an der Fachschule für Sozialpädagogik und dachte: Was sollen die Kollegen sagen, wenn sie wissen, dass ich in Bethel, einer christlichen Psychiatrie, zwangssterilisiert und als unheilbar schizophren abgestempelt wurde. Dann habe ich unter dem Pseudonym „Sophie Zerchin“, das ist ein Anagramm aus Schizophrenie, meine Biografie geschrieben. Das hat allerlei Aufsehen erregt, weil man zu der Zeit überhaupt nicht wusste, was eine Schizophrenie ist. Mir war klar: es ist das eigene Unbewusste, das ins Bewusste einbricht, um vorausgegangene Lebenskrisen zu lösen, die wir mit unseren bewussten Kräften nicht lösen konnten. Es kommt darauf an, sich den Sinn dieser oft symbolischen Erfahrungen zu erhalten, nur ihre objektive Wirklichkeit nicht.

Wie war damals das Echo auf Ihren Vorstoß?

Sie glauben nicht, wie voll die Säle waren. Es war etwas Neues, dass eine Betroffene, eine Geisteskranke – über 200.000 waren von ihren Psychiatern umgebracht worden – über diesen Bereich so offen sprach.

Hat Sie das Überwindung gekostet?

Wenn man selber drin ist, wird man sich selbst zum Forschungsobjekt. Ich bin 1936 als 19-Jährige in Bethel zwangssterilisiert worden, ohne, und das war gar nicht erlaubt, dass man mir gesagt hätte, warum die Kommission, die mit mir sprach, prüfte, ob ich zwangssterilisiert werden sollte. Sie haben es nicht einmal danach getan; eine Mitpatientin hat es mir gesagt. Ich war verzweifelt und erst als mir der Gedanke des Selbstmords kam, konnte ich wieder Grund unter die Füße bekommen.

Wie das?

Ich sagte mir: Ich warte ein Jahr ab, wie es dann ist. Wir durften keine weiterbildenden Schulen besuchen und ich war schon mit 14 Jahren fest entschlossen gewesen, Kindergärtnerin zu werden. Als ich dann nach einem Jahr mit Ton-Arbeit in Berührung gekommen war und meinen Weg wieder klarer sah, bin ich wieder auf die Füße gekommen.

In vielen Ihrer Schriften taucht das Wort „Ermutigung“ auf. Wer hat Sie ermutigt?

Natürlich Hans Krieger, der meine Erfahrungen für ein Buch wichtig fand. Anders als meine Familie damals – man glaubte den Studierten statt der Tochter. Ich fand immer, dass meine Eltern, die mich ja viel besser kannten, mir mehr hätten glauben sollen als den Psychiatern, die mich ja gar nicht kannten, weil sie nicht mit mir sprachen.

Aber Sie haben das verwunden.

Erst war es ganz schlimm. Gar nicht so sehr, dass wir keine Kinder bekommen konnten, wir durften auch nicht heiraten, sondern hatten die offizielle Abstempelung als minderwertig. Bis heute werden Patienten mit dem Stempel Schizophrenie dahin beeinflusst, sie könnten ihr Studium nicht fortsetzen, sie werden entmutigt. Ärzte, die eigentlich die Kräfte des Patienten stärken sollen, schwächen sie, weil sie als Mediziner gelernt haben, dass es eine Frage des Hirnstoffwechsels sei.

Grundsätzlich haben Sie aber den Eindruck, dass sich auf dem Gebiet etwas bewegt?

Es ist sehr unterschiedlich - es sind einzelne Menschen, die, möchte ich sagen, die Welt in Schuss halten. Noch in den 60er Jahren hat ein Neffe von Fritz von Bodelschwingh, der die Anstalt unter den Nazis leitete, im Bundestag gegen die Rehabilitierung von uns Zwangssterilisierten gesprochen und behauptet, es würde uns nur krank machen. Was für ein Unsinn. Auf der anderen Seite haben sich jetzt die Krankenkassen entschieden, die Ex-In-Bewegung hier in Hamburg mit zu finanzieren. Das sind Menschen mit Psychiatrie-Erfahrung, die in einer einjährigen Ausbildung lernen, ihre Erfahrungen als Genesungsbegleiter für andere zu nutzen.

Sie haben es mit auf den Weg gebracht, dass Patienten selbst über das Erlebte sprechen.

Ich habe mit dem Psychologen Thomas Bock vor 25 Jahren den sogenannten Trialog gegründet. Da setzen sich Betroffene, Angehörige und Fachleute an einen Tisch. Die Betroffenen erzählen von den Hintergründen ihrer unverständlichen Psychoseerfahrungen, damit man sie besser versteht. Die Angehörigen sprechen von ihren Schwierigkeiten, am wenigsten haben die Profis gesprochen. Sie waren damals aber auch am wenigsten vertreten, obwohl der Hörsaal bald nicht mehr ausreichte, um alle Leute zu fassen. Eigentlich könnte Hamburg eine Weltstadt für Solidarität, für eine menschliche Psychiatrie werden, statt den Hafen auszubaggern.

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