Gesammelte Fluchtgeschichten: Station Dornach

Unser Autor übersetzt in einer Notunterkunft. Oft ist er der Erste, mit dem traumatisierte Flüchtlinge über ihre Erlebnisse sprechen.

Ein Boot mit orangenen Schutzwesten steht auf einer Wiese.

Zurück bleiben die Westen: Ein Boot, mit dem Flüchtlinge auf der griechischen Insel Lesbos ankamen. Foto: dpa

Wenn Karim Hamed abends von seiner Arbeit als IT-Berater kommt, beginnt an manchen Tagen seine Nachtschicht als Übersetzer. Hamed, 36, lebt mit seiner Familie in München. Er spricht Arabisch, Französisch, Englisch und Deutsch. Sein Vater ist Tunesier, seine Mutter Deutsche. Seit Anfang September übersetzt Karim Hamed ehrenamtlich für Flüchtlinge und Sanitäter – meist in einem alten Bürogebäude in Dornach bei München. Bisher war es eine Notunterkunft, in der Flüchtlinge medizinische Versorgung und Essen bekamen, bevor sie meist am nächsten Tag an andere Orte verteilt wurden. Nun soll hier eine Überbrückungsunterkunft entstehen, in der Menschen für vier bis sechs Wochen wohnen.

Einige Gespräche mit den Menschen, die Karim Hamed dort trifft, schreibt er im Anschluss auf. Nachdem seine Notizen auf Facebook tausendfach geteilt wurden, richtete er einen Blog ein: blicktausch.com. Der folgende Text erschien gerade in dem E-Book „Willkommen! Blogger schreiben für Flüchtlinge“.

Für diese Nacht wurde die Ankunft von bis zu 1.500 Flüchtlingen in der Notunterkunft Dornach angekündigt. Ich habe mich entschlossen, die Nacht dort zu verbringen, und bin von 23 Uhr nachts bis 7 Uhr morgens da.

Als ich ankomme, ist die Unterkunft voller Helfer, sie sortieren Kleidung und unterhalten sich.

Dann kommen die Busse.

Die meisten Leute kommen von der deutsch-österreichischen Grenze. Hauptsächlich Afghanen, viele Syrer und Iraker, einige Iraner. Und ein junger Mann aus den Komoren.

Die meiste Zeit verbringe ich bei den Sanitätern der Johanniter und übersetze. Währenddessen sehe ich Menschen, die Schwächeanfälle erleiden und kollabieren. Andere haben einen grippalen Infekt. Ich sehe Kinder, die seit mehreren Tagen unter Durchfall leiden und sich regelmäßig übergaben. Es gibt sogar einen Verdacht auf Tuberkulose, der sich glücklicherweise als Fehlalarm herausstellt. Viele Menschen sind alt und gebrechlich, aber einige auch jung und kräftig. Sie haben nur ein Ziel: ihre Reise fortsetzen.

Flüchtlinge haben viel verloren und müssen das betrauern dürfen, sagt der Psychoanalytiker Vamik Volkan. Ein Gespräch darüber, was die Flucht mit der Seele macht, lesen Sie in der taz.am wochenende vom 12./13. Dezember 2015. Außerdem: Rainer Wendt ist Deutschlands lautester Polizist und nie um eine rechte Parole verlegen. taz-Autor Martin Kaul hat den Gewerkschaftsboss begleitet. Und: ein Portrait des schmächtigen Hahns Frank Sinatra – zum hundertsten Geburtstag. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.

Erste Begegnung

Ein Mann liegt, angeschlossen an ein EKG, bei den Sanitätern. Er erzählt mir, dass er aus Mossul im Irak kommt. Geflohen ist er vor dem IS. „Ich habe lange gegen sie gekämpft. Aber ich bin müde geworden. “

Mossul ist die Hauptstadt der Terrororganisation IS im Irak, oder?, frage ich.

„Ja, es ist schwierig dort geworden“, sagt er. „Ich werde in Deutschland nicht erzählen, dass ich Soldat war.“

Warum nicht?

„Sie werden mich der Fahnenflucht anklagen und dann zurückschicken“, sagt er überzeugt.

War die Reise anstrengend?

„Ja, aber ich bin kräftig und gesund. Als wir von der Türkei aus nach Griechenland unterwegs waren, kenterte unser Boot. 46 Insassen sind ertrunken. Ich bin geschwommen und konnte die Küste erreichen“, erzählt er mir.

Er beschwert sich über ein Piepen in seinem Ohr. Er sagt, dass es von den Schüssen und den Explosionen der Bomben in seiner Nähe kommt. Er leidet schon seit fünf Monaten darunter. Und als er den Sanitäterbereich verlässt, sagt er noch zu mir: „Wäre mein Land nicht im Krieg, ich hätte es nie verlassen. Was soll ich hier? Was soll ich in Europa?“

Zweite Begegnung

Ein junger Syrer erzählt mir, dass er die schwedische Staatsbürgerschaft hat und dass er eigentlich seit sieben Jahren in Schweden lebt. Er trägt eine Stirnlampe und eine gelbe Helferweste.

„Ich bin dann zurück nach Syrien gegangen und habe meine Mutter und meine Tante nach Deutschland gebracht. Meine Tante sitzt im Rollstuhl. Das hat uns sehr lange aufgehalten.“

Du bist nach Syrien gegangen, um deine Mutter auf ihrem Fluchtweg zu begleiten?, frage ich.

„Ja, schließlich kann sie den Weg nicht allein auf sich nehmen.“

Dritte Begegnung

Zwei arabische Helfer stehen im Wartebereich der Sanitäter um eine alte, schmächtige Frau herum. Sie sieht sehr geschwächt aus und sitzt in einem Rollstuhl. Als ich näher komme, sehe ich, dass sie Tränen in den Augen hat. In einem Ohr steckt ein Kopfhörer. Ich frage einen der Helfer, ob sie allein hier ist.

„Ja, sie ist allein hier. Rede mit ihr, es ist verrückt. Ich verstehe das nicht.“

Ich schätze, dass die Frau über 60 Jahre alt ist. Sie ist klein und sieht abgemagert aus. Hinter ihr stehen ein Rucksack, eine große Handtasche und zwei Tüten, die auch sehr groß sind. Ich frage den Helfer, wie sie es geschafft hat, das alles hierher zu bringen.

„Ja eben! Ich verstehe es nicht“, antwortet er.

Ich knie mich vor die alte Frau, grüße sie und frage: Woher kommst du?

„Aus Halab“, sagt sie mit weinerlicher Stimme.

Wie hast du es allein hierher geschafft?

Sie hebt den Zeigefinger der rechten Hand und sagt: „Allah hat mich hierher gebracht. Er hat es mir ermöglicht.“

Haben dir Leute unterwegs geholfen?

„Allah allein hat mir geholfen!!“, sagt sie.

Hast du Familie hier, die schon vor dir geflohen sind?, frage ich in der Hoffnung, dass sie ein Ziel hat. Irgendwo, wo sich ihrer jemand annimmt.

„Ich habe zwei Brüder“, sagt sie und fängt an zu weinen. „Sie sind beide in Halab zurückgeblieben. Sie konnten wegen der Belagerung nicht fliehen.“ Ihre Stimme ist schwach und ihre Augen rot. „Ich habe noch zwei andere Brüder. Sie sind verschwunden. Einer vor zwei, der andere vor drei Jahren.“, sagt sie weinend. Mir fällt nichts ein, was ich zur Beruhigung sagen könnte. „Und ein Bruder wurde getötet, als er losging, um Essen für seine Kinder zu holen.“ Als sie zu den Ärzten gerufen wird, reicht sie einem der beiden Helfer die Kopfhörer und ein Handy und bedankt sich.

Als sie weg ist, erzählte er mir, dass sie am Anfang so sehr geweint hat, dass er ihr angeboten hat, den Koran auf seinem Handy zu hören, was sie dankend annahm. Die rezitierten Verse hatten sie dann etwas beruhigt.

Vierte Begegnung

Ein korpulenter, etwas älterer Mann wartet im Sanitäterbereich. Er ist mit seiner Tochter und ihren drei kleinen Söhnen unterwegs. Er fragt mich, wo er ist und wie lange sie hier bleiben. Ich sage ihm, dass sie in Dornach in der Nähe von München sind und wahrscheinlich nur eine Nacht hier bleiben werden.

„Ich habe auf der Reise die Hälfte meiner Familie verloren. Ich bin hier mit meiner Tochter und meinen Neffen. Wir wurden von ihrem Mann, meiner Frau und anderen Mitgliedern meiner Familie getrennt“, sagt er.

Wo ist das passiert?, frage ich ihn.

„An der Grenze zu Österreich. Sie nahmen uns aus dem Zug und führten uns in Busse. Wir mussten schnell einsteigen, ohne Rücksicht auf unsere Familien. Daraufhin verlor ich sie aus den Augen. Sie sind wahrscheinlich in einen anderen Bus eingestiegen. Kommen alle Busse hierher?“

Nein, nicht unbedingt, antworte ich ihm. Wir erwarten zwar noch einige Busse in dieser Nacht, aber es ist nicht sicher, dass auch ihr Bus zu uns kommt. Könnt ihr sie vielleicht anrufen?

„Nein, wir haben kein Handy. Es ist bei ihnen geblieben.“

Habt ihr denn Familie in Deutschland?

„Ja, ihren Bruder“, sagt der alte Mann.

Dann ruft ihn doch an und sagt ihm, wo ihr seid, schlage ich vor. Mit etwas Glück kommt der Rest deiner Familie auf den gleichen Gedanken und ruft ihn auch an.

Der alte Man schaut seine Tochter an. Sie sagt: „Wir haben seine Nummer nicht. Wir haben gar keine Nummer dabei.“

Ich überlege, aber mir fällt kein Weg ein, ihnen schnell zu helfen. Ich sage dem Mann, er soll in der Frühe in den Essensbereich gehen und Ausschau nach ihnen halten. Sollten sie in der Nacht nach Dornach kommen, hätten sie dort die besten Chancen, sie wiederzufinden.

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