Gerd Koenen über die Kulturrevolution: „Attraktive Grausamkeiten“

Vor 50 Jahren rief Chinas Parteichef Mao die Jugend zur Revolte auf – ein gewollter Ausbruch anarchischer Massengewalt. Das Ziel: die „Große Ordnung“.

Großkundgebung

Fruchtbarer Appell zur Rebellion: Maoistische jugendliche Kampftruppen 1967 in Schanghai Foto: dpa

taz: Herr Koenen, Sie haben vor 30 Jahren geschrieben, dass die Kulturrevolution, die 1966 in China begann, so „geheimnisvoll ist wie die Skulpturen der Osterinsel“. Wissen wir heute mehr?

Gerd Koenen: Ja, wir wissen, dass die Kulturrevolution wohl das ungewöhnlichste Ereignis in der Geschichte des Kommunismus im 20. Jahrhundert war. Denn es war fast das einzige Mal, dass Kommunisten an der Macht in einer sogar bewusst chaotisierenden Weise von der Spitze her an die Massen appellierten. Und zwar besonders an die Masse der Jugendlichen, gegen die älteren Kader der Partei zu rebellieren. Das hatte es vorher noch nicht gegeben. Ebenso wissen wir heute, dass die Kulturrevolution für Mao einer eigene Ratio der Macht folgte. Das Chaos schien eigene Strukturen zu haben.

Wie passten Anarchie und Chaos mit der Ordnungsparanoia eines totalitären Regimes zusammen?

Das passte zusammen. Es war ein gewollter Ausbruch anarchischer Massengewalt, der wenig mit Demokratie zu tun hatte. Denn man konnte die jugendlichen Gruppen lenken und manipulieren. Mao wurde dabei wohl eher von einer chinesisch-kosmologischen Weltvorstellung geleitet, derzufolge aus der großen Unordnung, aus dem großen Chaos am Ende die „Große Ordnung“ entstehen würde. Wie ein olympischer Kaiser thronte er über dem Chaos, ließ es geschehen, zog mal diesen Faden, zog mal jenen, schickte die Armee hierhin und dorthin. Gewiss war das Kulturdiktat von Maos Gattin, Jiang Qing, hypertotalitär im Sinne der vollständigen Vereinseitigung des gesamten Kanons der zulässigen Kultur. Aber es gab eben verblüffenderweise immer auch diese anarchische Seite. Und das passte nicht zum traditionellen Totalitarismusverständnis.

Warum war die Kulturrevolution in Teilen der westlichen Linken so lange ein Mythos – trotz der furchtbaren Grausamkeiten?

Viele dieser Grausamkeiten wurden von der Basis begangen. Wenn alte Kader mit Schandhüten vorgeführt wurden, kam uns das vor wie ein Scherbengericht, das empörte Massen anrichteten. Und das schien etwas anderes zu sein als das, was in den Folterkellern und Lagern der Sowjetunion geschah. Zudem muss man wissen: Grausamkeit stößt nicht per se ab. Sie kann auch sehr attraktiv sein.

Jahrgang 1944, ist Publizist und Historiker. Er hat Geschichte und Politik in Tübingen und Frankfurt/Main studiert und dabei vom SDS 1967 bis zu den maoistischen Zirkeln und Parteiinitiativen der 70er Jahre das volle Programm des linksradikalen Aktivismus absolviert.

Rotgardisten wurden während der Kulturrevolution in die Mongolei und Mandschurei an die Basis geschickt. Auch diese Selbstproletarisierung diente der westlichen Linken gleichsam als Modell: raus der Uni, rein in die Betriebe …

Dabei darf nicht vergessen werden: Die Faszination des Maoismus ging der Bildung der neokommunistischen K-Gruppen und Parteien der 1970er Jahre voraus. Die Kommune I lief mit Mao-Buttons herum. Die lustigen Antiautoritären priesen den Aufstand der Jugend gegen die Alten, gegen die Bürokratie. Im Mai 1968 in Paris wimmelte es von Mao-Buttons. Brigitte Bardot zog sich die Mao-Mütze auf. Es waren berühmte Künstler oder Filmemacher wie Jean-Luc Godard, die ihre eigenen Kunstwerke verbrannten und mitteilten: „Wir werden jetzt dem Volke dienen.“

Spätestens mit Chinas Wende zum Kapitalismus brachen auch die Betonideologien der K-Gruppen, der Mao- und Jugendkult und ihr rigider Antirevisionismus zusammen …

Die Risse gab es schon früher. Deng Xiaoping vollzog in den 1980er Jahren eine Wendung nach der anderen. China begann außenpolitisch Realpolitik zu machen, die sich sogar gegen die Volksfront in Chile und gegen die Nelkenrevolution in Portugal wandte. Schon 1975 reiste Franz Josef Strauß vor vielen anderen Politikern aus dem Westen nach China und war begeistert von Mao. Wir waren die Deppen – und brauchten noch ziemlich lange, bis wir kapierten, wohin der Wind wehte. Und irgendwann passte nichts mehr zusammen.

Der Maoismus war ab 1967/68 ein internationales Phänomen, eine geistige Strömung im Westen, in der die Jugend zur weltverändernden Kraft stilisiert wurde. Man denke an die Parole: „Sie sind alt, wir sind jung – Mao Tse- tung“. Dies ging einher mit dem Phantasma einer permanent erneuerten Bewegung …

Maos Theorie war, dass die Revolution nicht einfach ein Ziel hat, am Ende ist der Sozialismus aufgebaut, das war es dann. Nein, es würde immer neue Revolutionen und Umwälzungen geben. Heute sehen wir: Der Kapitalismus ist diese unendliche Bewegung. Wir sind Teil dieser unendlichen Bewegung, aber anders, als wir uns dies einst vorgestellt haben.

Also gibt es eine Verbindung zwischen den rotgardistischen Energien von 1966 und dem Aufbruch zum turbokapitalistischen Wirtschaftswunder ab den 1990er Jahren? Hat die chinesische Revolution der Mao-Ära späte Früchte getragen, die nicht beabsichtigt waren?

Das ist tatsächlich die schwierigste Frage. China ist umgekrempelt worden, allerdings auf eine vollkommen andere Weise, als dies dem „Großen Steuermann“ ursprünglich vorgeschwebt hatte. Deng Xiaoping hat mit einem minimalen ideologischen Aufwand die latent schlummernden ökonomischen Potenziale und individuellen Aufstiegsenergien mobilisiert, also exakt das, was Mao mit Gewalt unterdrücken wollte. Und gleichzeitig hat er die Partei völlig auf Ordnung und Einmütigkeit getrimmt – notfalls mithilfe des Militärs, wie beim Massaker auf dem Tian’anmen-Platz im Juni 1989.

Chinas KP hat die Kulturrevolution als „Jahrzehnt der Katastrophe“ eingeordnet, ohne Mao vom Sockel zu stoßen. Lässt sich eine solche gespaltene Erinnerung durchhalten?

Die „Große Proletarische Kulturrevolution“ bleibt in der Geschichte der Volksrepublik China tatsächlich das einzige Ereignis, das offiziell – 1981 – verdammt worden ist. Interessant ist, dass ein Großteil der heutigen Parteielite, angefangen beim Parteichef Xi Ping, selbst Kinder von Verfolgten der Kulturrevolution sind. Jetzt dient sie in absurder Weise als Warnung vor jeder demokratischen Lockerung des Regimes und als Legitimation ihrer mit modernsten Mitteln geübten Gedankenkontrolle.

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