Gentrifizierung auf indisch: Letzter Mann im Dorf

In Mumbai verschwindet mit dem Bauboom nicht nur die historische Architektur. Der Abriss alter Häuser beendet auch die Kultur der East Indian Catholics.

Einheimische baden am Strand von Mumbai Bild: imago/K.P.Wolf

MUMBAI taz | Wenn Herr Bellina auf seine Veranda tritt, kann er seinem Dorf beim Sterben zuschauen. Er sieht, wie sein Nachbar mit ein paar Plastiktüten unterm Arm das Haus verlässt und Stunden später das Abrisskommando anrückt. Wie Buntglas splittert und Wände aus Lehmmörtel zu Pulver zerstieben. Tage später, kaum hat sich der Staub gelegt, schießt auch schon ein neues Haus aus dem Boden. Fünf Stockwerke aus Stahl und Beton stehen jetzt an der Stelle des verspielten Cottage-Hauses, das zweihundert Jahre überdauert hat.

Dennis Bellina ist sechzig Jahre alt und lebt seit seiner Geburt hier in Ranwar, einer 400 Jahre alten katholischen Enklave mitten in Mumbai. Bauern haben diese Siedlung einst zwischen Reisfelder gebaut, doch bald verleibte sich die wuchernde Megastadt den ländlichen Schauplatz ein. Dennoch hat Ranwar seinen Charakter bewahrt. Nur wenige Schritte von der engen, lauten und stinkenden Hill Road tut sich eine andere Welt auf: Landhäuser mit verzierten Außentreppen und weit ausladenden Dächern, bunt gekachelte Terrassen und Dorfplätze. Männer spielen auf der Straße Backgammon, Frauen legen Früchte zum Trocknen in die Sonne, Passanten sprechen an den Wegekreuzen ein stilles Gebet.

Dieses Idyll wird bald verschwunden sein. Ranwar gehört zum Stadtteil Bandra, der „Königin der Vorstädte“ im Norden Mumbais. Hier wohnen Bollywoodschauspieler und Kricketstars, hier geht man shoppen, Cocktails trinken oder an der Seepromenade spazieren. Ein Grundstück ist hier teurer als in Manhattan, weshalb Immobilienspekulanten Ranwar schon vor Jahren ins Visier genommen haben. „Immerzu klingelt hier jemand und will unser Haus kaufen“, erzählt Bellina. Vier Millionen Dollar haben sie ihm angeblich schon geboten, doch er hat immer abgelehnt. Er hat immer hier gewohnt und wird immer hier wohnen. Was aber passiert, wenn er und seine Frau sterben, ist ungewiss. Die Kinder arbeiten in Singapur und Schweden, am elterlichen Haus mit der großen Veranda haben sie nur wenig Interesse. „Unser Haus wird bald abgerissen werden, genau wie alle anderen“, glaubt Bellina.

„This property is not for sale“ steht auf vielen Häusern geschrieben. Diese Immobilie ist nicht zu verkaufen. Allein, dieser fromme Wunsch wird den Bewohnern nichts nützen. „Das größte Kriminalitätsproblem hat Mumbai mit der Immobilienbranche“, sagt Smita Nair. Die 31-jährige Reporterin schreibt für The Indian Express und befasst sich seit Jahren mit der Sicherheitslage der Metropole, recherchiert die Hintergründe von Terroranschlägen und über Korruption. Nichts sei so schlimm wie die „real estate mafia“, so Nair.

„Gegen die Baubranche hat Ranwar keine Chance“, bestätigt auch der Designer Vivek Sheth, der seine Doktorarbeit über das Dorf geschrieben hat. Ihm ist es zu verdanken, dass das Bestehende vor Eintreffen der Abrissbirne wenigstens noch einmal dokumentiert wurde. Bei seinen Recherchen konnte er kaum auf alte Fotos, Karten oder Zeichnungen zurückgreifen. „In Ranwar wurde nie etwas dokumentiert. Sobald ein Haus abgerissen ist, erinnert sich nach einem Jahr niemand mehr daran.“

Vergessene Geschichte

Als Sheth den Häusern und ihrer Geschichte nachspürte, entfaltete sich vor seinen Augen die einzigartige Kultur ihrer Bewohner. Die Ranwaris gehören zur Gruppe der East Indian Catholics, die im Großraum Mumbai leben. Sie gehören zur ethnischen Volksgruppe der Marathi – sind also „Ureinwohner“, die von den Portugiesen missioniert wurden und portugiesische Nachnamen angenommen haben. Ein gewisser portugiesischer und später britischer Einfluss ist auch in der Architektur nicht zu verleugnen. Und manchmal braucht man nur die Treppen zu einem Speicher hinaufzugehen, schon steht man in einem Sammelsurium verstaubter viktorianischer Möbel.

Auf dem Gebiet Bandras gab es einst 24 „Hamlets“, Bauerndörfer in der Art von Ranwar. Davon sind heute noch fünf übrig geblieben, etwa 30 bis 35 Familien leben dort. Ein Hamlet bestand aus ungefähr zehn Häusern und wurde im Laufe der Zeit immer dichter bebaut. „Wenn geheiratet wurde, baute man eher an das bestehende Haus an, als ein neues zu bauen“, so Sheth. Daher kommt die heutige Zickzackführung der engen Straßen, gerade so breit, dass ein Ochsenkarren hindurchpasst. Heute besteht Bandra aus zwei Teilen: den alten Dörfern mit ihrem Gassengewirr und den neuen, wohlgeplanten Gebieten.

Dennis Bellina hat sich wieder auf seine Veranda gewagt. Nachdem er sich ein Glas Sprite eingeschenkt hat, deutet er nach links die Straße hinunter. Nur ein paar Schritte neben dem neuen Apartmentblock blieb noch eine alte Institution erhalten: „The Rest Ranwar“ von 1908, eine Art Dorfclub für soziale und sportliche Aktivitäten. Einige erfolgreiche Sportler gingen daraus hervor, und die jährlichen Weihnachts- und Neujahrsbälle zogen Massen aus ganz Mumbai an. Heute versucht die Gemeinschaft, das „Rest“ nach langem Winterschlaf wiederzubeleben.

Doch gegen die Macht der Immobilienpreise sind die East Indians machtlos. „Die meisten wissen nicht, was Denkmalschutz ist“, sagt der Dokumentarist Vivek Sheth. „Und wenn es um ihr eigenes Haus geht, wüssten sie nicht, was sie zu tun haben oder wen sie fragen sollen.“

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.