Genozid an Armeniern: „Wir verneigen uns vor den Opfern“

In Istanbul erinnern Demonstranten an den Völkermord an den Armeniern. Mühsam lernt die türkische Gesellschaft den Umgang mit der dunklen Vergangenheit.

Istanbul: Gedenken an die Opfer des Genozids. Bild: dpa

ISTANBUL taz | Es ist ein nahezu stummer Protest, aber er strahlt dennoch in die ganze Türkei aus. Rund hundert Menschen versammeln sich am Donnerstagmorgen auf den Stufen des historischen Haydarpascha-Bahnhofs auf der asiatischen Seite Istanbuls. Sie halten Fotos hoch unter denen Namen stehen wie Taniel Varujan, Ruben Zataryan, Kriker Zolrak, Karekin Catalyan oder Migrid Stepanjan.

Es sind armenische Namen, Namen von Männern, die vor 99 Jahren, am 24. April 1915, von dem Bahnhof aus in Lager nach Inneranatolien deportiert wurden. Insgesamt waren es 300, von denen kaum jemand überlebte. Damit begann der Völkermord an den Armeniern im Osmanischen Reich, dem letztlich über eine Million Menschen zum Opfer fielen.

Vor den Demonstranten ist ein großes Plakat auf den Bahnhofsstufen ausgebreitet. In Türkisch, Armenisch und Englisch steht dort: „Wir verneigen uns vor den Opfern des Genozids am armenischen Volk“. Bei den türkischen Demonstranten haben sich Gäste aus Armenien und der armenischen Diaspora in Europa eingereiht. Raffi Hovannasian, ein früherer armenischer Minister aus Jerewan, legt eine rote Nelke nieder. Er bedankt sich bei den Demonstranten für ihre Anteilnahme und ihren Kampf gegen die offizielle Leugnung des Völkermords in der Türkei.

Es ist eine denkwürdige, bewegende Veranstaltung, die früher in der Türkei so nicht möglich gewesen wäre. Doch seit ungefähr zehn Jahren ist die „Tragödie des armenischen Volkes“ auch am Bosporus kein Tabu mehr. Es begann mit Konferenzen, bei denen auch Historiker auftraten, die sich gegen die offizielle türkische Haltung wandten, wonach es bei der Deportation der Armenier nur kriegsbedingte Opfer gab, keinesfalls aber ein Völkermord stattgefunden habe. Bald darauf fanden auf dem zentralen Istanbuler Taksimplatz am Abend des 24. April jeweils eine Gedenkveranstaltung statt, wenig später luden türkische NGOs dann armenische Gäste zur Trauerfeier ein.

Die Gesellschaft konfrontieren

Die Veranstaltung am Ausgangsort der Deportationen war ein weiterer Schritt, um die Gesellschaft mit diesem dunklen Kapitel ihrer Geschichte zu konfrontieren. Dass die Proteste türkischer Intellektueller nicht wirkungslos bleiben, zeigte die überraschende Beileidsbekundung von Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan am Vorabend des Gedenktages.

Das erste Mal überhaupt in der Geschichte der türkischen Republik meldete sich ein türkischer Regierungschef, um den Enkeln der Opfer des Genozids sein Beileid auszusprechen. Erdogan spricht in seiner schriftlichen Erklärung von einem gemeinsamen Leid. Allerdings vermeidet er jedes Schuldeingeständnis und spricht lediglich von „Ereignissen mit unmenschlichen Folgen“. Er warnt davor, diese Ereignisse „als einen Vorwand für eine Anfeindung der Türkei zu benutzen“. Dennoch äußerte er die Hoffnung, „dass die Völker der Region mit Reife über ihre Vergangenheit sprechen können und ihrer Toten gemeinsam gedenken werden“.

Für die bei der Gedenkveranstaltung anwesenden Armeniern ging diese Erklärung nicht weit genug. „Wir erwarten eine explizite Anerkennung des Genozids“, sagte Nicolas Tavitian, Sprecher der Allgemeinen armenischen Hilfsorganisation in Europa. „Erdogans Erklärung ist ein erster Schritt, aber nach fast 100 Jahren ist das doch viel zu wenig.“

Hovannasian sieht in der Erdogan-Erklärung gar nur einen taktischen Schachzug. „Erdogans Beileidsbekundung“, meint er, „ist Teil einer politischen Strategie, um bei den bevorstehenden Debatten zum 100-jährigen Gedenken des Völkermords im kommenden Jahr guten Willen zu demonstrieren. Was er sagt, ist die freundliche Verpackung der alten Leugnung des Völkermords. Damit wird die Türkei international aber nicht mehr durchkommen.“

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