Frank Witzels Roman über die Post-68er: Popmusik und Depression

In Frank Witzels Roman geht es um vieles: Pop, Politik und Provinz etwa. Und um die Existenzängste eines 13-Jährigen Ende der 60er Jahre.

„Rubber Soul“: die Lyrics des Beatles-Album spielen eine zentrale Rolle in Witzels Roman. Bild: imago / EntertainmentPictures

Mit einem alphabetischen Register fiktionaler und realer Personen, Begriffen aus Technik- und Zeitgeschichte, Unterhaltungskultur (TV-Sendungs-, Film-, Songtitel) und Konsumwelt, Theologie und Biologie beschließt der Schriftsteller Frank Witzel diesen monumentalen Roman. Unter A, wie „Aal“, „Amon Düül“, oder „AZUM (Autonome Zelle im Gedenken an Ulrike Meinhof)“ gibt es 57 Eintragungen, 7 unter dem Buchstaben Z: „Zündplättchen“ heißt die letzte. Enzyklopädisches wird entstaubt und mischt sich mit schriftstellerischer Fantasie.

Damit wird die Welt eines pubertierenden Dreizehnjährigen in der hessischen Provinz am Ende der sechziger Jahre ausstaffiert. Ein überschaubares Setting tut sich zunächst auf. Elternhaus, Schule, Freizeitgestaltung. Dessen Trott bringt den Protagonisten um seinen Verstand. Er neigt zum Geständnis, beichtet ausgiebig in der Kirche. Als er an der Wirkmächtigkeit von Katholizismus zu zweifeln beginnt, fällt sein Weltgebäude zusammen. Später wird aus der Beichte ein polizeiliches Verhör, noch später ein Therapiegespräch. So lässt Witzel allmählich ein Stimmenimbroglio entstehen, dessen Form bedingt auch den Inhalt.

„Wenn ich nicht besser bin, so bin ich wenigstens anders“, heißt es in den „Bekenntnissen“ von Jean-Jacques Rousseau, einem berühmten Vorläufer dieses jugendlichen Existenz-Zauderers, der auf seine Individualität pocht und subjektives Empfinden für sich reklamiert. „Manic Depression is touching my soul“, singt Jimi Hendrix in seinem Song „Manic Depression“ und spielt dazu Gitarrenakkorde-Achterbahn. Ihren Loopings aus Überschwang und Frust, Wut und Empfindsamkeit rauscht Witzels Roman hinterher. Ihm ist damit ein westdeutsches Buch der Unruhe gelungen.

Sein Geschehen ist in 98 Kapitel aufgefächert. Statt einer chronologischen Schilderung von Ereignissen verknüpft Witzel mehrere lose Erzähl-Enden, macht große Zeitsprünge, aus dem titelgebenden 1969 weiter in die siebziger Jahre, in die Mitte der neunziger Jahre und rückwärts in die fünfziger Jahre und wieder in die Gegenwart.

Frank Witzel: „Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969“. Matthes & Seitz, Berlin 2015, 817 Seiten, 29,90 Euro

Dazwischen stehen sprachphilosophische Einschübe, die Radikal-Exegese eines Postulanten von Songs des Beatles-Albums „Rubber Soul“, Hagiografien von Mitgliedern der RAF und andere vermeintliche Einsprengsel aus der Zeitgeschichte, die den Leser daran erinnern, dass es für diesen packenden Roman reale Vorbilder gegeben haben könnte.

Ein unzuverlässiger Erzähler

In der Renitenz des Teenagers finden sich Spuren von Existenzialismus und aus „Fänger im Roggen“, Superhelden-mäßige Comic-Übertreibung und ephemeres Popwissen, wie es Nik Cohn einst aufgeschrieben hat. Weder Nachhilfestunden noch Drohungen oder religiöse Unterweisungen zähmen den Größenwahn des Protagonisten. Zum Glück, denn als Erzähler ist er nicht verlässlich, ihm entgleitet das Erzählte mehrmals, und genau im Verstiegenen entsteht große Literatur.

Ein Schweizer Unternehmer will mit einer einzigen Zahl das Wohlbefinden jedes Menschen messen. Und so die maroden Krankenkassen sanieren. Wie genau das funktionieren soll und auf welche Widerstände er stößt, lesen Sie in der taz.am wochenende vom 18./19. April 2015. Bonjour, Israel! Wie geflohene, französische Juden in Israel ankommen. Und: Der Tocotronic-Produzent Moses Schneider. Ein Interview über Dur. Außerdem: Nackte Jungs lesen. Ein Literaturevent. Plus: Hausbesuch bei Deutschlands einzigem professionellen Nacktmodell. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.

In der vermeintlich überschaubaren alten Bundesrepublik verbirgt sich noch eine weitere Stolperfalle: Am Handlungsort, der Kleinstadt Biebrich und ihren umliegenden Gemeinden, swingen die Sixties nicht, sie schleppen die vorangegangenen Jahrzehnte und ihre Miefsprache mit. Die Popkultur befreit die Körper einerseits, andererseits sind deshalb Frömmigkeit und repressives Autoritätsregime noch lange nicht getilgt. Davon abgeleitet wird auch die politische Rigorosität der radikalen Linken. Witzel misstraut ihrem Vokabular, so wie er allen anderen Sprechweisen misstraut.

Philosophie des Unterhemds

Er arbeitet sich nicht an der Romantik von Anti-Imp-Terror ab, findet Bezugspunkte zwischen RAF und religiöser Ikonografie. „Im Wackelpudding kam das Schwankende und Ahnungshafte der Zeit zum Vorschein“, schreibt er an einer Stelle. „Wie für die dreißiger und vierziger Jahre eine Philosophie des Unterhemds vonnöten wäre, so müsste man für die … sechziger Jahre eine Philosophie des Wackelbilds entwickeln.“

Dieses Wackelbild entsteht aus den Dualitäten der Zeit: „Beatles oder Stones“. Das Unterhemd erhält im Register „U“ 7 Eintragungen. Das Wackelbild unter „W“ 3. Witzels Protagonist kann den Dualitäten nicht entrinnen, er kann nicht vergeben. „Ob ein Mensch Erfahrungen machen kann oder nicht, ist in letzter Instanz davon abhängig, wie er vergisst.“ Eines der Mottos des Romans. Es stammt von Adorno.

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