Flüchtlinge in Passau: Im Traumland wartet ein Feldbett

Nirgendwo in Deutschland wird die Flüchtlingskrise so sichtbar wie in Passau. Die Beamten kümmern sich täglich um Tausende Menschen. Ein Besuch.

Flüchtlinge neben einem Bus nahe Passau.

Wartende Flüchtlinge an der deutsch-österreichischen Grenze. Foto: dpa

PASSAU taz | An keinem anderen Ort brechen sich derzeit das Bayern der CSU und das Bayern der Realität so ironisch wie in Passau. Ungefragt stellte die Stadt ihr Kongresszentrum Dreiländerhalle der Bundespolizei im September für die Erstaufnahme von 617 Geflüchteten zur Verfügung. Auch in den vergangenen Nächten, angesichts der wieder gestiegenen hohen Ankunftszahlen aus Österreich, dient die Halle als Notunterkunft für bis zu 1.000 Menschen.

Noch im Februar hatte hier, wo nun Asylsuchende auf Feldbetten schlafen, Ministerpräsident Horst Seehofer vor der bierseligen Parteigemeinde gedröhnt: „Wir sind nicht das Sozialamt der Welt.“ Ja, auch für den Politischen Aschermittwoch, das populistische Hochfest der Christsozialen, ist Passau berühmt.

Das Grenzstädtchen galt dafür jahrzehntelang als rabenschwarzes Loch. Wie kommt es nun, dass ausgerechnet in diesem äußersten Winkel Deutschlands täglich 7.000 Geflüchtete derart geräuscharm und weit humaner als in mancher deutschen Großstadt empfangen und weitergeleitet werden? Möglicherweise, weil hier die Not der Realität längst die politischen Alarmglocken zum Schweigen gebracht hat.

Den Ausnahmezustand hier, am Endpunkt der Balkanroute, regieren BeamtInnen, die seit Monaten mit Empathie und Pragmatismus bürokratische Labyrinthe durchsteigen – und dabei nur eines fürchten: das Chaos der Politik. Verena Schwarz ist die Notfallmanagerin im Landkreis Passau. Die Chefin der Abteilung Ordnung und Sicherheit, etwa 300 Überstunden auf dem Dienstkonto, empfängt in ihrem hellen Amtszimmer.

Verena Schwarz

„Bei uns bleibenalle hängen“

Auf dem Schreibtisch liegen ein Dutzend Akten kreisartig aufgefächert. Wo die Arbeit anfängt, wo sie aufhört, scheint ihr egal zu sein. Was die drahtige 49-Jährige in den vergangenen Wochen zu organisieren hatte, lief ohnehin vor allem übers Telefon. Es muss hier schneller gehen als anderswo auf dem Amt. Monat für Monat gibt es neue Rekordzahlen an Geflüchteten.

Anfang September kam die Grenzöffnung. Da seien die Grenzkontrollen seit Mitte September nur noch „die Spitze des Eisbergs“, so Schwarz. Zuvor fuhren viele Geflüchtete einfach über die Grenze, blieben im Zug sitzen oder stiegen um, vom Schleuserauto in den Regionalexpress nach München – und fuhren weiter. „Jetzt bleiben bei uns alle hängen“, sagt Schwarz.

Mal wieder überrascht

Die Stadt Passau war immerhin ausgerüstet, mit Hallen für die erste Übernachtung in Deutschland: Doch plötzlich tauchten die Menschen an den kleinen Grenzübergängen oben im Bayerischen Wald auf. Davor waren es ein paar Urlauber, die dort rübermachten, nun meldeten ihr die Gemeinden Hunderte Geflüchtete, die die Polizei nicht unterbringen konnte. Schwarz und ihr Amt waren von der Politik mal wieder überrascht worden. Sie könnten hier im Landkreis „immer nur reagieren“, sagt sie.

Schwarz hat seither mal wieder viel gelernt, zum Beispiel über Dixi-Klos: Dass in der Flüchtlingskrise Dixi-Klos für die Versorgung von Geflüchteten erstens kaum noch zu bekommen sind, und zweitens nicht oft genug gereinigt werden, um die Hygiene für Tausende Menschen langfristig sicherzustellen. Mittlerweile haben sie WC-Container herangefahren – und an die örtlichen Wassernetze angeschlossen, sie haben die Bundeswehr aktiviert, die in den Grenzorten Wegscheid und Neuhaus Essen austeilt. Angemietete Busse bringen die Geflüchteten entweder zum Passauer Bahnhof, wo täglich bis zu acht Sonderzüge in andere Bundesländer abfahren, oder transferieren sie gleich direkt durch die Republik.

Aus Schwarz sprudelt es heraus, ihr energischer Blick offenbart einen olympischen Ehrgeiz, den ganzen Wahnsinn zu beherrschen – und dabei in der Masse noch Menschen zu sehen. Wenn die Polizei von „Aufgriffen“ sprach, dann sorgte sich die Juristin bereits um die kälter werdenden Nächte für die Aufgegriffenen: Als Zelte für die Übernachtung nicht mehr taugten und die Passauer Hallen voll waren, wurde ein ehemaliger Supermarkt angemietet, wo die abends Ankommenden 100 Feldbetten und rudimentäre Verpflegung erwarten: „Wasser, Toast, Müsliriegel – damit niemand hungern muss.“

Die nächste Busladung von der Grenze

Was wollte man auch beanstanden? Während das Land Berlin es nicht schafft, seine Notzelte über Nacht zu öffnen, hat hier im Grenzland jeder Geflüchtete nachts ein festes Dach überm Kopf. Morgens dann ruft Schwarz bei der Bundespolizei an, damit diese die Geflüchteten möglichst bald mit dem Bus nach Deggendorf in die Erstaufnahmeeinrichtung fährt, und Mitarbeiter vom Bauhof saubermachen können, dann kommt jemand vom Landratsamt mit dem Schlüssel und sperrt zu – nur Stunden später ruft oft wieder die Bundespolizei bei Schwarz an, für die nächste Busladung von der Grenze.

Am vergangenen Wochenende schickte Österreich wieder verstärkt Geflüchtete weiter in Richtung Deutschland, insgesamt waren es 15.000, denn an der slowenisch-österreichischen Grenze muss auch wieder entlastet werden. Die Menschenmassen werden weitergeschoben. Das ist in Spielfeld an der slowenisch-österreichischen Grenze nicht anders als in Passau.

Mit Österreich, so ein Behördensprecher, habe man zwar die Vereinbarung getroffen, dass sie pro Stunde und Grenzübergang nur 50 Menschen verkraften könnten, diese Anzahl sei aber längst überschritten worden. Teilweise unangekündigt seien Hunderte Flüchtlinge an die Grenze bei Passau gefahren worden, diese campierten laut der Passauer Neuen Presse nahe einer Tankstelle. Und dann gibt es ja noch die 1.900 Geflüchtete im Landkreis, in einem Dutzend Gemeinschaftsunterkünften, die erst einmal bleiben.

300 Überstunden

Früher, sagt Schwarz, hätten sie für 70 Asylbewerber ein Heim eröffnet, nun bleiben jede Woche 70 Neue. Schwarz weiß nicht, wie lange sie hier im Einsatzstab noch können. Trotz der 28 Mitarbeiter, die man Schwarz inzwischen zusätzlich bewilligt hat, bleiben ihr zwei Worte für ihr Arbeitspensum: „Außer Kontrolle.“ 300 Überstunden.

Diese Überstunden hat auch Alois Kriegl längst zusammen: „Mei“, seufzt er, lächelt und nimmt einen tiefen Schluck aus der Kaffeetasse. Mittwochnachmittag, 15 Uhr, und der Leiter des neuen Zweitjugendamts der Stadt Passau hat immer noch nichts zu Mittag gegessen. Wie so oft. Manchmal muss der Verwaltungsfachwirt mit der sanften, tiefen Stimme nachts raus zu den Neuankömmlingen, wenn sie im Amt wieder zu wenige sind, manchmal auch am Wochenende. Seine Familie stöhnt, ja, aber sie steht hinter ihm. „Wenn man die Schicksale der Jugendlichen, die hier ankommen, mitkriegt, möchte man manchmal selber weinen.“

Was Kriegl nicht loslässt: Jugendliche, denen er die körperliche Misshandlung ansieht, Jugendliche, die in der Heimat keine Familie mehr haben, und dann „alle unter zehn Jahren“. Wenn deutsche Bürokratie für Kinder sorgen muss, zumal für 2.000 Kinder innerhalb von neun Monaten, dann kleckert sie nicht. Anfang 2015 entschied Kriegls kleines Amt, dass es sich verdoppeln musste – Passaus Stadtrat schuf einstimmig 25 Stellen. Macht etwa zwei Millionen Euro Personalkosten. Nun gibt es zwei Jugendämter. Sozialpädagogen führen Interviews auf den Bierbänken der Clearingstelle, sie überprüfen, ob die Jugendlichen wirklich nicht volljährig sind und ob sie Verwandte in Deutschland haben.

Das Modell ist ein Wahnsinn

Wenn Verwandtschaft da ist, treten sie in Kontakt mit dortigen Behörden, wenn nein, geht die Suche nach einer geeigneten Einrichtung los. Immerhin dürfen geflüchtete Minderjährige mittlerweile innerhalb Bayerns verteilt werden. Die Verteilung innerhalb Deutschlands soll von 1. November an möglich sein. Auch die Finanzierung soll einfacher werden. Klar, dass eine 50.000-Einwohner-Stadt den Aufwand nicht allein stemmen kann. Also greift hier bisher die föderalistische Solidarität. Theoretisch.

Praktisch ist das Modell ein Wahnsinn. Regelmäßig weist das Bundesverwaltungsamt dem neuen Passauer Jugendamt „Abrechnungspartner“ aus den verschiedensten Bundesländern zu: Natürlich sind die Strukturen nicht einheitlich. Jedes Mal müssen die BeamtInnen aus Niederbayern herausfinden, welches Amt genau in diesem und jenem Bundesland für sie zuständig ist. „Und dann rechnet man fleißig hin und her“, erklärt Kriegl trocken. Von November an wird Bayern allein die Finanzierung übernehmen. Immerhin dieser Wahnsinn hat dann ein Ende.

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